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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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bedeckten
     ihren Körper nur dürftig. Das Kerzenlicht spiegelte sich auf ihren nackten Beinen. Er legte die Decke auf den Boden, die er
     mitgebracht hatte, und hockte sich nieder. Das Gesicht war angeschwollen rings um ihre Augen, offenbar hatte sie geweint.
     Wie sie ihn ansah!
    »Eine Decke, für dich«, sagte er. Er stellte den Kerzenhalter und den Wasserkrug auf den Boden, faltete die Decke auf und
     breitete sie über Adeline. Als er sich ihr näherte, um den Knebel abzunehmen, zuckte sie zurück. Sie stöhnte auf vor Angst.
    »Ich tue dir nichts.« Er hielt die leeren Hände vor sich wie ein Friedensangebot. »Du brauchst keine Angst zu haben.« Er griff
     hinter ihren Kopf. Sie hielt still, ob aus Angst oder aus Zutrauen, das wußte er nicht zu sagen. Es kostete Mühe, den Knoten
     zu lösen, er hatte sich festgezogen. Endlich bekam er ihn auf und nahm ihr das Stoffbündel aus dem Mund.
    Sie atmete, als habe sie den ganzen Tag die Luft angehalten. Dabei sah sie ihn nicht an. Sie blickte zu Boden. Auch in ihrem
     Leiden sah sie schön aus. Die langen blonden Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Diese kindlichen, friedfertigen Züge! Daß
     sie versucht hatte, ihn mit Gift zu töten, paßte nicht zu ihr.
    |354| Ich habe sie soweit gebracht, dachte er, ich bin schuld daran. Er dachte an seine Schwester. Plötzlich kam es ihm vor, als
     sei er mit Adeline im Bauch der Mutter gewesen, als sei Adeline seine Zwillingsschwester. Aber das war ja unmöglich, die Schwester
     war tot gewesen, als sie zur Welt kamen. Er hatte sie ausgehungert, weil er alle Speise für sich nahm, oder ihr mit der Nabelschnur
     die Luft abgedrückt, er wußte es nicht.
    Er versagte darin, wiedergutzumachen, was er als Kind im Mutterbauch angerichtet hatte. Statt dessen lud er sich mehr und
     mehr Schuld auf das Gewissen. Es drückte schwer. Seinen Sohn hatte er getötet. Den Tod des Inquisitors befohlen. Er hatte
     gelogen. Er hatte Adeline Angst eingejagt. Warum tat er das, wo er doch das Gute wollte?
    »Ich bin so nicht«, sagte er. »Ich möchte so nicht sein.« Er biß sich auf die Lippe. »Du denkst, ich bin ein Scheusal. Das
     denkst du, nicht wahr? Ich habe meinen eigenen Sohn umgebracht. Ich wollte ihm helfen, das mußt du mir glauben! Und Vizenz
     Paulstorffer habe ich sterben lassen. Ich habe meine Schwester … Meine Schwester ist gestorben, weil ich mit ihr im Bauch
     der Mutter war. Und dir habe ich weh getan.« Er sah sie an. »Es tut mir leid. Es tut mir aufrichtig leid. Das ist die Wahrheit.
     Es ist nicht leicht, Amiel von Ax zu sein. Glaube mir, Mädchen, oft wünschte ich, ich wäre ein anderer.«
    Sie schwieg.
    »Du mußt mir nicht vergeben. Aber sprich mit mir. Ich ertrage das Schweigen nicht, es ist ein schlimmeres Urteil als ein Fluch.«
    »Was habt Ihr Nemo angetan?« flüsterte sie.
    »Nemo? Er ist abgehauen! Hat Angst bekommen vor der Inquisition, vermute ich. Ich habe ihm acht Silberpfennige gegeben, damit
     er Heilkräuter kauft beim Apothekarius. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.« Er stutzte. Warum hatte sie das gefragt?
     »Deshalb wolltest du mich vergiften? Weil du dachtest, ich hätte Nemo getötet?«
    |355| Sie wendete das Gesicht ab.
    Er beneidete den Streuner. Wie er ihn beneidete um ihre Zuneigung! Er nahm den Krug, führte ihn zu ihren Lippen. »Hier, trink.
     Du mußt durstig sein.« Er hob den Krug an.
    Das Wasser lief ihr am Hals hinunter. Sie hielt die Lippen verschlossen.
    »Es ist nicht vergiftet! Gutes Brunnenwasser. Du hast doch Durst! Warum sollte ich dich vergiften?« Er hob den Krug an seinen
     Mund und trank. »Siehst du? Ich trinke selbst. Adeline, wenn du wüßtest, wie es in mir drin aussieht, wie ich bereue, was
     ich dir angetan habe! Es gibt so vieles, das ich bereue. Ich wünschte, ich wäre ein Mensch, der Gutes tut, der anderen hilft,
     ihre Sünden loszuwerden, ihre Süchte, ihre bösen Gelüste. Aber ich komme nicht einmal mit meinen eigenen zurecht! Vermutlich
     bin ich ein größerer Sünder als die, die mich als Lehrmeister betrachten.«
    Er versuchte es noch einmal, hielt ihr wieder den Krug an die Lippen und kippte ihn an. Diesmal trank sie. Sie sog in großen
     Zügen das Wasser ein und schluckte, schluckte.
    »Warum hast du das Fleisch nicht gleich vergiftet und hast statt dessen das Gift in einer Dose mitgebracht?« Er nahm den Krug
     fort.
    Sie sah ihn an. »Nur Ihr solltet sterben. Ich hatte Angst, Unschuldige mitzutreffen. Darum wollte ich zuerst die Speise

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