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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Simon.
    Er sah ihnen nach. Wie Raben schwärmten sie aus. Seit Jahren plante er, was in diesen Tagen geschah. Er hatte es sich |358| vorgestellt, immer wieder, und bis hin zur Gestaltung der schwarzen Kutten vorbereitet. Nun wurden seine Pläne Wirklichkeit.
     Er konnte dabei zusehen, wie sich alles erfüllte. Die Wirklichkeit entsprach in verblüffender Weise dem, was er sich erträumt
     hatte. Da gingen sie hin, die elf Ergebenen, um das Volk restlos für ihn zu gewinnen. Immer wieder bogen einzelne in Seitengassen
     ab, bis nur noch drei auf der Straße dahinschritten, zwei, schließlich einer. Wie gering waren die Widerstände gewesen! Es
     war leichter als gedacht, den Menschen die Augen zu öffnen für ihre Widerwärtigkeit. Sie verlangten regelrecht danach, zu
     erfahren, wie verdorben sie in Wirklichkeit waren.
    Wenn die alten Mächte ihren bevorstehenden Sturz ahnten, würde es bereits zu spät sein. Die reine Kirche erstarkte, wie er
     es geplant hatte. Amiel lächelte. Eines Tages würde seine Seele zu Gott heimgekehrt sein, und man würde hier auf Erden von
     ihm sprechen, dem Gründer, dem Urvater der weltweiten Kirche der Reinen.
    Er schloß die Tür und verriegelte sie. Leise in sich hineinlächelnd, durchquerte er den Empfangsraum und betrat den Flur.
     Durch die offenstehende Tür zur Halle fiel Licht. Stäubchen schwebten im Lichtkegel wie kleine Sonnenfunken. Er trat in den
     Sonnenstrahl und griff mit der Hand nach dem Staub. Die Stäubchen wirbelten durcheinander.
    Wer hatte die Tür offengelassen? Die Halle beheizten sie mit dem großen Ofen, weil hier die Mahlzeiten eingenommen wurden.
     Stand die Tür offen, entwich die Wärme in den Flur, und die Halle kühlte aus. Er seufzte. Es konnte nur einer der Hausknechte
     des alten Pötschner gewesen sein. Wahrscheinlich hatte er den weißen Kalksteinboden ausgefegt und vergessen, die Tür zu schließen.
    Amiel trat in die Halle. Er erstarrte. Auf seinem Stuhl saß eine Erscheinung in Weiß, die Hände auf den prachtvollen runden
     Tisch gelegt. Ein Racheengel im weißen Dominikanerhabit. Das Gesicht bestand zur Hälfte aus Narbenfleisch. Gegen die weiße
     Kleidung wirkte das rote Fleisch wie ein |359| übernatürliches Mal und das Auge mitten darin wie der Blick eines Engels. »Ich lasse eine Menge Menschen auf dem Marktplatz
     warten, nur um mit Euch zu reden«, sagte der Dominikaner. Er wies auf den Stuhl an seiner rechten Seite. »Kommt, setzt Euch.
     Wir müssen entscheiden, wann Ihr sterbt.«
     
    Die Zunge war immer noch pelzig, und im Mund schmeckte es faulig. Aber sie bekam Luft. Und sie hatte getrunken. Sie zwang
     sich, an die Ferne zu denken, nicht an das, was geschehen war, nicht an ihren zerschundenen Körper. Kannte Gott sie, Adeline,
     mit Namen? Ein gläsernes Meer sollte es im Himmel geben und einen Baum, dessen Früchte unsterblich machten. Dort war es immer
     hell. Krankheiten gab es nicht mehr, keinen Keuchhusten, keine Zahnfäule, kein Nierenfieber. Jeder war gesund. Musik und Tanz
     prägten das Leben, Gott selbst war da, in einem Thronsaal empfing er Gesandtschaften, Gott, der sie geschaffen hatte, der
     den Einfall gehabt hatte, Ohren zu erschaffen und Finger und ein Herz, das schneller schlug, wenn es liebte.
    Sie sang:
Wär er nicht erstanden
    Wär die Welt vergangen
    Seit daß er erstanden ist
    Loben wir den Vater
    Jesu Christ, Kyrieleis!
    Sie brach ab und lauschte in die Dunkelheit. Lachten die Gespenster sie aus? Da war nichts, nur Stille, als würden die Geister
     ihr zuhören. Dann ein Rascheln. Kamen Ratten, um sie anzunagen? Sie zog die Füße unter die Decke. »Seit daß er erstanden ist,
     loben wir den Vater Jesu Christ, Kyrieleis!« sang sie erneut. Ratten waren häßliche Tiere. Es hieß, sie konnten den unschuldigen
     Gesang einer Jungfrau nicht ertragen.
    Adelines Gedanken stockten. Ihre Haut brannte. Überall dort, wo er sie berührt hatte, war es wie Feuer. Sie wollte diese Stellen
     abschaben, das Fleisch wegschneiden. Sie wollte ihn los sein. Ihn aus der Erinnerung tilgen. Sie begann zu weinen. |360| Er saß an ihr, mit Widerhaken hatte er sich in ihren Bauch geschlagen und hielt sich fest. Amiel von Ax hatte sich ihr mit
     seinem kühlen Wasser eingeflößt, er drückte sie mit seiner Decke nieder wie mit Bleigewichten. Sie wälzte sich darunter hervor
     und stieß sie mit den Füßen fort.
    Du bist selbst schuld, wisperte ein Stimmchen. Es übertönte ihr Schluchzen mit seinem beißenden, zischenden

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