Das Mysterium: Roman
Geflüster. Hättest
du ihn nicht in Frieden lassen können? Du mußtest ihn ja zu Fall bringen mit deinem Duft, mit deinem Haar. Er ist das Opfer,
nicht du! Betört hast du ihn mit deinem Körper. Du hast ihn verhext. An körperlichen Vergehen sind immer die Frauen schuld,
sie sind die Verführerinnen, die Ehebrecherinnen, die Huren. Ja, eine Hure bist du. Eine Hure!
Adelines Zunge verkrampfte sich. Sie würgte, hustete. Wasser kam ihr den Hals emporgeschossen, sie erbrach es, es spülte auf
den Boden. Das Wasser drang durch Mund und Nase heraus. Sie fürchtete zu ersticken, versuchte, sich zu beruhigen. Es tropfte
ihr vom Kinn und von der Nase.
Tränen rannen ihr über die Wangen und flossen in die Mundwinkel. Sie schmeckten salzig. Adeline kroch zur Wand. Wie eine Raupe
krümmte sie sich und streckte sich wieder. Sie versuchte aufzustehen. Sie schrammte mit der Schulter am Mauerwerk hinauf,
stemmte sich hoch. Endlich stand sie. »Er ist schuld«, sagte sie. »Er ist schuld, nicht ich. Er ist schuld. Er ist schuld.
Er.« Sie hustete erneut.
Das Flüstern erlosch. Sie schöpfte Atem. Es war dieses Haus, sie war ja immer noch in seinem Haus, er war hier, er belebte
es mit seinen Dämonen. Sie drehte sich zur Wand um und tastete die Steine ab. Wo das Gewölbe sich nach vorn neigte, um an
der Decke kreuzförmig zusammenzulaufen, fand sie eine scharfe Steinkante. Sie schabte mit den Handfesseln darüber. Wenn sie
die Hände freibekam, konnte sie die Füße losbinden. Dann würde sie einen Stein suchen, ein spitzes Stück Holz aus einem der
Fässer brechen, irgend etwas, und sich hinter der Tür auf die Lauer legen.
|361| Amiel sah sich um. Hinter ihm standen vier Ritter, zwei zu jeder Seite der Tür. Eine Flucht war ausgeschlossen.
»Die Tür«, sagte der Dominikaner. Einer der Ritter, ein stiernackiger, bärtiger Mann mit silbern blitzendem Prunkschwert am
Gürtel, kehrte sich zur Tür um und schloß sie.
»Wie seid Ihr hier hereingelangt?« fragte Amiel.
»Ein Hausknecht war so freundlich, mich und die meinen über die Hofseite einzulassen. Er war es leid, für einen Ketzer zu
arbeiten, und ich habe ihm Absolution erteilt.«
»Was wollt Ihr von mir?« Der Inquisitor konnte unmöglich jetzt schon den Prozeß beginnen wollen. Er war bekannt für seine
Akribie. Er würde nicht die Anklage führen, ohne drei oder vier Tage Beweise zusammengetragen zu haben. »Ich werde nicht fliehen.
Ich bleibe in der Stadt.«
»Wie ich schon sagte, wir müssen entscheiden, wann Ihr sterbt.«
Hatte er sich in ihm getäuscht? Das wäre ein fataler Fehler, einer, der ihn das Leben kosten konnte. Brachten sie ihn, Amiel,
heute oder morgen auf den Scheiterhaufen, dann blieb nicht genügend Zeit, bis sich die Münchner bewaffnet hatten. »Wenn Ihr
mich hinrichtet, macht Ihr mich zum Märtyrer. Die ganze Stadt wird in Aufruhr geraten.«
»Was kümmert mich diese Stadt?« Er wies erneut auf den Stuhl zu seiner Seite. »Kommt, setzt Euch.«
Hier stimmte etwas nicht. Einem Ketzer bot der Dominikaner keinen Sitzplatz an. Er war noch nicht fertig mit ihm. Was wollte
er wissen? Was wollte er erlangen? Amiel schritt durch den Saal und trat an eines der Fenster heran. Er mußte sich beruhigen.
Er mußte sicher auftreten.
Das Glas schimmerte golden im Sonnenlicht. Es warf einen gelben Schein auf die steinerne Bank, die darunter in die Wand eingelassen
war. Amiel strich darüber, als wollte er prüfen, ob sie sauber genug war, um sich darauf niederzulassen. Dann drehte er sich
zum Inquisitor um. »Ihr seid noch keine Stunde in der Stadt und meint, Ihr habt bereits die Überhand gewonnen? Ich fürchte,
Ihr täuscht Euch. Zugegeben, Euer Auftritt |362| hier ist beeindruckend. Ich hatte heute noch nicht damit gerechnet. Aber Ihr werdet herausfinden, daß ich gut vorgesorgt habe.«
Der Inquisitor hob die Hände. »Spart Euch das. Wir beide wissen, wie die nächsten Tage ablaufen werden und daß Ihr und die
Euren auf dem Scheiterhaufen enden. Ich bin allerdings bereit, davon abzurücken. Wißt Ihr, daß Vizenz Paulstorffer mir geschrieben
hat, kurz vor seinem Tod?«
»Ach?«
»Er war nicht der erste. Auch aus Frankreich habe ich über Euch so einiges vernommen. Und kaum bin ich in der Stadt eingetroffen,
höre ich, daß Ihr den armen Vizenz Paulstorffer in Eis verwandelt habt.«
»Das sind Gerüchte, nichts weiter.«
»Ihr seid Jurist, ich weiß. Ich will im Augenblick auch nicht
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