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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Lichter, diese Stimmen. Sie fühlen sich an, als wären es Wege in eine ferne Zeit.«
    »Erzähle mir davon.«
    Der Ordensmeister hatte gesagt, es seien gefährliche, böse Gedanken. Er hatte gesagt: »Manch guten Mann haben solche Träume
     zugrunde gerichtet, vergiß sie, Nemo.« Er aber mochte sie, er mochte den sehnsüchtigen Schmerz, der mit ihnen kam. Nicht,
     daß er gerne litt! Der Schmerz schien ihm wirklicher zu sein als alles, was er in seinen Täuschungen und Betrügereien erlebte.
     Manchmal war ihm das Leben, das er führte, wie ein Traum. Der Schmerz der Erinnerungen drang zu ihm durch aus der Wirklichkeit,
     wollte ihn wecken. Seit langem wünschte er sich aufzuwachen. Es gelang ihm nicht.
    »Nemo?«
    »Ja, ich rufe sie mir vor Augen.« Deckengebälk. Stühle und der Tisch von weit oben, er saß auf den Schultern eines Mannes,
     mit dem Kopf stieß er fast an die braunen Balken. Er hielt sich an den Haaren des Mannes fest. Der Mann lachte mit tiefer
     Stimme, schnaubte wie ein Pferd und rannte durch den Raum. Nemo juchzte. Hatte er sich diese Erinnerung damals als Waisenkind
     im Spitalorden einmal erträumt, weil er sich danach sehnte, Eltern zu haben, und inzwischen hatte er sie sich so oft vorgestellt,
     daß sie ihm wirklich erschien? Oder war es wahrhaftig geschehen?
    Eine Hand, die ihm über den Kopf strich. Die weiche Stimme einer Frau. Er traute diesen Erinnerungen nicht. Wie sollte er
     wissen, ob es nicht die Phantasien eines kleinen Jungen waren, Wunschbilder? Ein Löffel, der ihm Brei zuführte und rings um
     seinen Mund strich. Heißes, sehr, sehr heißes Badewasser.
    |72| »Was siehst du?«
    Sollte er Amiel davon erzählen? Es bewirkte womöglich, daß ihm der Fremde im Gegenzug ebenfalls etwas preisgab, etwas über
     die Eltern. »Ein Bild geht so«, sagte er zögerlich, »es ist unwirklich und beängstigend: Ich kaure im Dunkeln. Ein Mann und
     eine Frau sind bei mir. Sie halten mir den Mund zu, ich darf mich nicht rühren. Wir haben Angst.«
    »Ja«, sagte Amiel von Ax. Seine Stimme war plötzlich rauh. »Ja. Erinnerst du dich an mehr?«
    Etwas sperrte sich in seinem Hals, und der Kehlkopf schmerzte. War da mehr?
    »Ich kenne deine Eltern. Ich werde sie dir beschreiben, und du sagst mir, was dir in den Sinn kommt, wenn du sie vor dir siehst.«
    Er schluckte. Ein flauer Hauch ging durch seine Brust. Mit aller Kraft hielt er die Augen geschlossen. Er sagte: »Ich bin
     bereit.«
    »Stelle dir einen Mann vor, Schnurrbart, ein Auge von einer schwarzen Klappe verdeckt. Behaarte Arme. Die Statur eines Schmieds.
     Entsinnst du dich?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Eine Frau, braune, lockige Haare. Der Mund schmal. Ein flinkes Wesen, die Hände ruhen niemals. Sie hält dich auf dem Arm,
     schleppt dich herum, den ganzen Tag.«
    Er sah ihr Gesicht. Für den Bruchteil eines Augenblicks sah er ihr ins Gesicht, und sie schaute ihn mit großen Augen an. Dann
     war alles fort.
    »Erinnerst du dich?«
    Er schüttelte den Kopf. Er verspürte plötzlich unsagbare Angst davor, sich an seine Eltern zu erinnern. Er riß die Augen auf,
     sah zum Fenster, sah in den Hof zu den Bäumen. Er wollte nicht an die Eltern denken.
    »Schließe die Augen!« sagte Amiel.
    Die Augen brannten. Er behielt sie offen.
    Amiel griff an seinen Gürtel und zog ein kleines Fläschchen hervor. »Du willst doch wissen, wer sie sind. Du willst |73| dich erinnern. Ich kann dir helfen. Dieses Fläschchen gehörte einst deiner Mutter. Sie hat es mir vor ihrer Abreise gegeben.«
    Eine Reise? Die Reise, die aus Frankreich nach München geführt hatte? Hatte sie Amiel das Fläschchen wirklich gegeben? Oder
     hatte er es ihr gestohlen?
    »Du wirst jetzt die Augen schließen, und ich werde das Fläschchen öffnen.«
    Er senkte langsam die Lider. Sein Herz stolperte wie ein alter Karren über einen steinigen Weg.
    Der Korken löste sich aus dem Flaschenhals. Die Flasche gab einen Ton von sich. Plötzlich ein Duft: Milch und Rosen.
    Nemos Brust verkrampfte sich. Er schluckte. Er rang um Luft. Tränen stiegen ihm in die Augen. Sie perlten unter den zugepreßten
     Lidern hervor und liefen ihm über die Wangen. Der Duft tat ihm weh.
    Milch und Rosen.
    Das Gesicht tauchte wieder auf, die Frau sah ihn mit großen Augen an. Strengen Augen, die seine Aufmerksamkeit verlangten.
     Dabei hörte er eine tiefe Stimme, die Stimme seines Vaters. Die Stimme sagte: »Paß jetzt gut auf.« Er ertrug es nicht. Er
     riß die Augen auf, keuchte, würgte. Etwas

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