Das Mysterium: Roman
Hundeführer, nur mag ich diesen Hund nicht anfassen.«
»Adeline, du wirst ihn zum Hundehaus führen.« Der faltige Mund der Gräfin zeigte Härte. Giselberga hatte sich die Sache in
den Kopf gesetzt, und wenn Adeline sich weigerte, würde es die Gräfin nur noch weiter in ihrem Entschluß befestigen.
Sie war eine Frau von starkem Willen. Obwohl seit vielen Jahren niemand mehr Tasselmäntel trug, kleidete sich die Gräfin Tag
um Tag in einen weitfallenden Mantel. Die Damen des Hofes trugen neue Kleider, die in der Taille eng waren und die Hälfte
des Busens offenbarten. Gräfin Giselberga aber legte nach alter Sitte zwei Finger auf das Band, das ihren Mantel vorn zwischen
den zwei metallenen Schließen zusammenhielt, den Tasseln. Es kümmerte sie nicht, was die anderen über sie dachten. Und jetzt
würde es sie nicht kümmern, ob es Adeline behagte oder nicht, ihren Auftrag auszuführen.
Wenn der Hund sie ansprang, würde er sie mühelos umstoßen. Ein Jagdhund. Einer, der es gewohnt war, die Hälse von Wildgänsen
durchzubeißen. Gestern noch hat er die Hirsche durch den Wald gehetzt, dachte sie, hat geknurrt und gebellt und zugeschnappt.
Sie war starr vor Angst.
»Geh hin und greif ihn am Lederband, das er um den Hals trägt.«
»Und wenn er mich beißt?«
|67| »Dann geben wir Waldrosenwurzel auf die Wunde, und sie verheilt wieder.«
Entsetzt sah Adeline die Gräfin an. Sie hatte erwartet, daß sie abwiegeln würde, daß sie sagen würde, ein Jagdhund beiße keinen
Menschen. Waldrosen auf die Wunde? Also dachte auch Giselberga, daß er wahrscheinlich zuschnappte? Er kannte Adeline nicht.
Seinen Pflegern mochte er gehorchen, sie hatten sich vom Welpenalter an Autorität verschafft. Aber eine Unbekannte, die einfach
sein Halsband ergriff? Er würde sie mit Sicherheit anfallen.
Ein Muskel zuckte unter dem Fell der Bracke. Dieses Zucken ängstigte Adeline noch mehr. Das Tier bestand aus Fell und Muskeln,
da war kein Quent Fett, kein bißchen Gelassenheit. Alles an ihm war Sprung, Angriff, tödlicher Biß.
Zögerlich tat sie einen Schritt auf den Hund zu. »Steh auf«, sagte sie leise. »Bitte.«
Er nahm keine Notiz von ihr.
Sie sagte: »Ich glaube, er möchte lieber hier liegenbleiben, als zu den anderen Hunden zu gehen.«
»Die Frage ist, was du möchtest, Mädchen.«
»Ich kann ihn nicht zwingen!«
»Doch, du kannst.«
Sie tat einen weiteren Schritt, bereit, zurückzuspringen, falls der Hund sich plötzlich gegen sie wandte. »Hunde spüren es,
wenn man Angst vor ihnen hat.«
»Eben darum solltest du forsch vorantreten und das Lederband greifen.«
Adeline holte zitternd Atem. Das ist mein Ende! dachte sie. Dann griff sie nach dem Halsband. Sie hielt es fest.
Nichts geschah. Der Hund sah sie nicht einmal an. Er lag da und döste. Sie zog am Band. »Bitte steh auf.« Es war, als sei
der Hund festgewachsen. Er bewegte sich nicht einen Fingerbreit. »Wenn Ihr ihm sagen würdet, daß er aufstehen soll, würde
er sicher gehorchen.«
»Möglich. Aber ich möchte, daß du es ihm sagst. Zieh kräftiger am Halsband! Schlage einen harten Ton an!«
|68| Adeline stiegen Tränen der Verzweiflung in die Augen. In diesem Augenblick haßte sie die Gräfin. Konnte sie nicht hinnehmen,
daß ihr Kammermädchen sich fürchtete? Mußte diese Qual sein? Bei einem Befehlston würde die Bracke sich angegriffen fühlen,
sie würde zubeißen, kein Zweifel.
Adeline ging in die Hocke. Sie flüsterte: »Du willst nicht aufstehen, ich weiß. Wenn ich entscheiden dürfte, könntest du auch
gern hier liegenbleiben. Ich habe furchtbare Angst vor dir. Du kannst mich totbeißen, und ich kann gar nichts tun. Aber die
Gräfin befiehlt es, verstehst du? Bitte steh auf.«
Der Hund wandte ihr den Kopf zu. Das schreckliche Maul öffnete sich, die Zunge kam heraus. Der Jagdhund hechelte. Adeline
konnte seine spitzen Zähne sehen. Für einen Moment dachte sie, er würde sie packen, aber dann begriff sie, daß er sie anders
ansah, mit Interesse. Seine Brauen waren aufgestellt, und die Hundeaugen musterten ihr Gesicht.
Sie streckte die Hand aus. Die Finger zitterten. Trotzdem strich sie tapfer über das kurze, weiße Fell. Zuerst streichelte
sie den Rücken. Dann wagte sie es, den Kopf zu berühren. Durch das Fell konnte sie den riesenhaften Schädel des Hundes fühlen.
Sie spürte einen leichten Druck gegen ihre Hand. Es war, als strecke der Hund sich ihr entgegen. Er zwinkerte und stieß
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