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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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stimmte nicht mit der Erinnerung. Warum quälte sie ihn? Er stand auf. »Ich muß hier
     weg.« Er mußte fort von diesem Duft. Die Knie bebten, er wankte. Würde er überhaupt gehen können?
    »Du erinnerst dich, nicht wahr?« Auch Amiel erhob sich. Er hielt Nemo an der Schulter fest.
    »Ich habe ihr Gesicht gesehen«, flüsterte er.
    »Schau genau hin«, sagte Amiel von Ax. »Geben sie dir etwas?«
    Nemo wischte sich mit dem Ärmel über das tränennasse Gesicht. Seine Hände zitterten. »Warum haben sie mich verstoßen? Warum
     wollten sie mich nicht haben?«
    »Setze dich.«
    »Wißt Ihr es?«
    »Setze dich. Stelle dich der Erinnerung. Du bist jetzt ein Mann, du kannst es ertragen.« Er drückte Nemo mit einer |74| Hand nach unten. Die andere Hand hielt das Fläschchen, das grauenvolle.
    Nemos Knie gaben nach. Er fiel mit dem Gesäß auf das Bett nieder.
    »Du schließt jetzt deine Augen«, sagte Amiel.
    Er tat es. Er sah den Mann mit der Augenklappe und die Frau mit dem schmalen Mund und den flinken Händen. Mutter und Vater.
     Es war Nacht. Die Mutter sah ihn an mit diesem strengen, Achtsamkeit erzwingenden Blick. Der Mond schien ihr ins Gesicht.
     Sie zeigte fort von sich, er sollte sie nicht anschauen, er sollte etwas anderes sehen. Wohin zeigte sie? Da kniete der Vater.
     Er vergrub etwas. Die Mutter zeigte Nemo die Bäume und den Fluß und etwas, das in seiner Erinnerung verschwommen war, etwas
     Großes, das sich bewegte. Was war es?
    Er wollte mit dem Haar der Mutter spielen, aber sie schüttelte den Kopf und schob seine Hand fort. Sie war angespannt, das
     konnte er spüren. Sie duftete nach Milch und Rosen. Sie hatte Angst. Nun bekam auch er Angst. Sie gingen eine Anhöhe hinauf.
     Häuser. Häuser. Ein dunkles Tor. Nemo bekam einen Kuß auf die Stirn, einen langen Kuß, einen Kuß, der gar nicht enden wollte.
     Die Mutter weinte! Der Vater nahm ihn ihr aus den Armen und legte ihn nieder. Er fiel, er fiel und fiel und fiel und landete
     nicht. Es wurde dunkel. Es war kalt. Er war sehr allein.
    »Sie haben mich verlassen«, wisperte er, in seiner Brust eine peinigende Enge. »Warum haben sie das getan?« Er wollte sich
     niederlegen und sterben, auf der Stelle sterben. Er konnte die Einsamkeit nicht ertragen. Sie fraß sich wie Wurzelwerk in
     seine Glieder, von der Brust ausgehend, streckte sich in seinem ganzen Körper aus und quälte ihn. Seine Eltern hatten ihn
     verlassen.
    »Haben sie dir etwas gegeben?«
    Das Vergrabene. Mit letzter Kraft hielt er seine Lippen geschlossen. Er hörte auf zu atmen, um den Duft auszusperren, den
     Duft, mit dem Amiel Macht über ihn gewonnen hatte. |75| Amiel von Ax konnte der Feind seiner Eltern sein! Was, wenn sie das Ding vergraben hatten, damit es nicht in seine Hände geriet?
     
    Auf der Treppe, im Dämmerlicht, öffnete er die Faust. Die beiden Gulden lagen darin. Er hob eine der Münzen vor sein Gesicht.
     Ein bayerischer Schildgulden. Mit Mühe entzifferte er die Umschrift:
Ludovicus dei gratia Romanorum imperator.
Ludwig, von Gottes Gnaden Römischer Kaiser. Die Münze zeigte ihn auf seinem Thron, in der Rechten das Schwert. Drohend ragte
     es gen Himmel. Die Linke hielt den Schild mit dem Reichsadler.
    Er hatte das Gefühl, seine Eltern verkauft zu haben. Für die Mutter ein Goldstück, für den Vater ein Goldstück. Amiel von
     Ax war tatsächlich gefährlich, William hatte recht behalten. Wer war er, Nemo, in seiner Gegenwart gewesen? Nicht der Tagelöhner
     jedenfalls. Er war zu einer geknechteten Seele verformt worden. Er war der Wirklichkeit nahegekommen, die er lange Zeit ersehnt
     hatte, und hatte sie doch verfehlt, unter Qualen. Amiel von Ax hatte Gold, und er hatte Antworten. Was er dafür verlangte,
     war ein unmenschlicher Preis.

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    William stand neben der zerfallenen Mühle und blickte über das Land. Es erinnerte ihn an die Grafschaft Surrey, an seine Heimat.
     Er hatte das kleine Dorf Ockham nie wiedergesehen, die Felder, die Hecken, die Schafe. Aber wenn er hier stand mit dem Rücken
     zur Stadt und die Bauern beim Pflügen beobachtete, dann fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt.
    Drei Felder hatte er im Blick, und auf allen dreien zogen Bauern mit dem Pflug ihre Bahnen. Am Ende machten sie kehrt und
     liefen dann neben der vorangegangenen Bahn, immer geradeaus. Einer der Bauern hatte seinen Sohn dabei und pflügte mit zwei
     Pferden, die beiden anderen Bauern hatten vier Ochsen vor ihre Pflüge gespannt. Der mit

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