Das Mysterium: Roman
wieder das Haus verließ, für einen Besuch, ein verschwörerisches Treffen,
was auch immer! Er mußte das Dokument in die |237| Hände bekommen. Es gehörte ihm! Der Vater hatte es für ihn vergraben.
Amiel schien zu ahnen, daß ihm Verrat drohte. Neuerdings schliefen im Flur verschiedene Männer, die ihm anhingen, darunter
der Glatzkopf von den Fleischbänken und ein Mann namens Bartholomäus mit einem weiblich anmutenden, zarten Gesicht. Auch am
Tage war immer einer von ihnen da und wachte über die Tür zu Amiels Raum, unauffällig, mit irgendeiner Aufgabe betraut, dem
Kneten von Teig für geweihtes Brot, dem Zerstampfen von Gemüse für eine Pastete, dem Flicken von Untergewändern. Nemo war
nicht blind. Sie trugen lange Dolche im Gürtel. Sie waren zu Amiels Schutz da.
Er legte eine letzte Reihe Holzscheite in den Korb. Das kantige Holz roch harzig. Es war durchgetrocknet und würde fabelhaft
brennen. Vielleicht konnte er dem Perfectus einen Handel vorschlagen? Ihm das Dokument abkaufen für die Summe Geldes, die
er für die Reise angespart hatte?
Der Glatzkopf kam die Außentreppe hinunter, und mit ihm die beiden Männer, die seit gestern oben bei Amiel gewesen waren,
Bartholomäus und Jakobus, ein rauher Geselle mit fleckigen Zähnen, der mit Vorliebe Mäusefallen aufstellte. Der Perfectus
schickte sie alle fort? Eine solche Gelegenheit würde sich so bald nicht wiederholen.
Die Männer beachteten ihn nicht. Wortlos verließen sie den Hof. Nemo sah ihnen nach. Wenn er jetzt hinaufging und Amiel überrumpelte,
dann konnte er sich den Hammer aus der Truhe greifen und verschwinden. Er hob den Korb an.
Es wurde ruhig. Der Schmiedehammer klickte nicht mehr, und der Blasebalg hatte aufgehört zu rauschen. Offenbar machte der
Goldschmied eine Pause. Männerstimmen tönten aus der Werkstatt. Dazwischen die aufgeregte Stimme der Frau des Goldschmiedemeisters.
Ihr Gesicht erschien kurz im Spalt der Hintertür, dann verschwand es wieder. Nemo nahm die ersten Stufen der Treppe. Er hörte
zahlreiche Schritte, sah sich um.
Lukas betrat den Hof und mit ihm weitere Zimmerleute. Sie waren sicher nicht hier, um ein Haus zu bauen. Sie dienten |238| der Stadt. Er hatte sie im Krieg kennengelernt, als sie mit Windhaspeln und Spanngurten die Riesenarmbrüste schußbereit machten.
Die Geschütze feuerten drei schwere Bolzen zugleich ab. Die Zimmerleute bedienten sie im Wechsel mit den gewaltigen Wurfmaschinen,
die Steinblöcke auf das Heer Heinrichs von Niederbayern schleuderten. Was wollten sie hier? Warum trugen sie Knüppel?
»Kein Wort«, sagte Lukas. »Komm hier herunter und schweige.«
»Warum seid –«
»Du hast Mist gebaut, Nemo. Halt den Mund. Ich kann nichts für dich tun.«
Er nannte ihn Nemo? Dann war seine Deckung aufgeflogen. Er stieg die Treppe hinunter. Im Krieg hatte er unter dem Namen Kunrad
Teufelhart als Hauptmann gedient, hatte sich mit angeblicher Erfahrung in Kriegsführung beim Stadtrat beworben. Offenbar wußte
Lukas inzwischen, daß das eine Lüge gewesen war. Nemo stellte sich neben den Brunnen.
Hinter den Zimmerleuten kamen drei weitere Männer auf den Hof, einer davon ein Geistlicher im Chorrock. Der dunkle Rock reichte
bis über die Knie. Der Geistliche trug rote Handschuhe, auf deren Oberseite ein goldenes Kreuz gestickt war. Eine runde Kappe
bedeckte seinen Kopf. »Ich bin Vizenz Paulstorffer«, sagte er. Plötzlich zuckte seine Hand zur Wange hoch, er rührte daran,
als schmerze ihn ein Zahn. Er ließ die Wange los. »Inquisitor der Stadt München, Träger einer päpstlichen Vollmacht etcetera.
Du bist der Diener Amiels von Ax, hat der Goldschmied uns mitgeteilt. Ist es so?«
Sie kamen, um den Perfectus zu holen. Nemo schluckte. »Ja«, sagte er.
»Festsetzen«, befahl der Inquisitor.
Schwere Hände legten sich auf seine Schultern. Einige Zimmerleute stiegen die Treppe hinauf. Der Inquisitor folgte ihnen,
geruhsam, als erledige er ein wichtiges Amt, das keine Überstürzung duldete.
|239| Sie standen im Hof und warteten. Keiner der Zimmerleute sprach ein Wort mit ihm. Die Inquisition nahm ihn gefangen, an diesem
hoffnungslosen Fall wollte sich niemand anstecken. Man konnte sich den Tod holen.
Nach kurzer Zeit kamen sie mit dem Perfectus. Er trug seinen gefütterten Mantel. Am Kragen sahen die Iltispelze hinaus. Der
Perfectus war ein Jagdopfer inmitten einer Meute Bluthunde. Hoffentlich hatten sie nicht das Dokument im Hammer
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