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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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München. Die Fenster zur linken Seite waren um ein Drittel länger als die zur rechten Seite, das
     lag daran, daß die Kirche eine alte Wehrmauer des Hofs als Kirchenschiffwand vereinnahmte. Hinter der Mauer gen Norden lag
     der Wassergraben. Die kurzen Fenster befanden sich oberhalb der ehemaligen Mauerkrone. Eine Kleidertruhe mußte nicht schön
     sein. Sie mußte Sicherheit geben.
    Der Lakai verließ die Kaiserempore durch den angrenzenden Trakt zu den kaiserlichen Gemächern hin. Er durfte dort entlanggehen
     mit seinem Kehricht. Allen anderen war es verboten, aber er zählte nicht. Seine Aufgabe war es, den Kaiser zu pflegen.
    Sie legte sich nieder auf das Gesicht und breitete die Arme aus. »Gütiger Gott«, sagte sie, »laß Amiel vernichtet werden!
     Und rette Nemo!« Es war die alles entscheidende Stunde. Der Inquisitor verhörte sie. Adeline war heilfroh, daß sie ihre Zeugenaussage
     im Ketzerprozeß nicht in Anwesenheit des |242| Angeklagten hatte geben müssen. Vor den giftgrünen Augen des Verruchten hätte sie kein Wort herausgebracht.
    »Gott, bitte laß Nemo kein Haar gekrümmt werden. Und vernichte Amiel. Bitte, bitte vernichte ihn!« Gott würde ihr Gebet erhören.
     Schließlich war Amiel ein Ketzer, und Gott konnte keinen Ketzer vor seinem Angesicht dulden. Nemo aber hatte nichts Boshaftes
     getan, er wollte doch nur erlangen, was ihm gehörte.
    Weinerlich fügte sie hinzu: »Nemo hat nichts getan.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Bitte«, flüsterte sie, »rette ihn.
     Ich brauche ihn! Und wenn ich ihn nicht bekommen soll, wenn das meine Strafe sein soll, dann laß ihn dennoch nicht durch meine
     Schuld verlorengehen.« Amiel in ihrem Bett kam ihr in den Sinn, wie er rittlings auf ihr gesessen hatte, wie er mit ihrem
     Haar gespielt und an ihr gerochen hatte. Plötzlich fühlte sie sich unwürdig. Wie konnte sie, die Beschmutzte, diese Kirche
     entweihen? Wie konnte sie auf Gottes Beistand hoffen?
    Ihr Blick fiel auf den Altar im vorderen Bereich der Kirche. War nicht auch der Kaiser ein Ketzer? Diesen Altar zu Ehren des
     heiligen Laurentius hatte er weihen lassen, obwohl er, Ludwig, unter dem Kirchenbann stand. Er nahm das Gebot des Papstes
     nicht ernst.
    Sie spürte Amiels Hauch an ihrem Ohr. Ihr wurde schlecht. »Gott, ich weiß, du bist gnädig mit Ludwig, unserem Kaiser. Aber
     sei es nicht mit Amiel. Er verdient den Tod! Bitte vertilge ihn. Ich kann nicht leben, wenn er lebt!« Und rette Nemo. Rette
     Nemo. Rette, rette, rette ihn! Alles ging durcheinander in ihrem Kopf. Sie wurde wahnsinnig.
    Schritte und gedämpfte Stimmen näherten sich. Sanfte Hände halfen ihr auf. »Gott ist da«, sagte ein Mönch, »er hat dein Gebet
     gehört.« Der zweite Mönch legte ihr seinen Mantel über die Schultern. Er war noch warm. »Habe Geduld. Gott handelt, schon
     jetzt, während wir sprechen. Du kannst ihm vertrauen.«

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    Zur Urteilsverkündung strömten eine Menge Leute herbei. Recht so. Sie sollten sehen, wer Amiel von Ax war. Sie sollten seine
     Demütigung sehen. Den halben Marktplatz füllten sie schon aus, die Färber, Kistler, Lederer, Bäcker, Gewandschneider, Wagner.
     Juden waren da. Seelfrauen. Klarissen vom Unteren Anger. Selbst den ältesten Sohn des Patriziers Mäusel konnte er ausmachen
     und die Frau des Edlen Pötschner.
    Aus den Weinkellern rings um den Marktplatz hastete die Kundschaft heraus, um zuzuschauen, und in den Fenstern der Geschäftshäuser
     zeigten sich Gesichter von Adligen. Einige Kinder kletterten auf den Brunnen, um besser sehen zu können.
    Vizenz hob den Bußbrief in die Höhe. »Vor dem Herrn Rechtsberater Hans Rosenbusch, vor den Notaren und der versammelten Bürgerschaft
     Münchens verlese ich im Namen der heiligen Inquisition der Kirche Gottes das Urteil über Amiel von Ax.«
    Der Eisenfinger klopfte gegen seinen Backenzahn. Von Tag zu Tag wurde der Schmerz schlimmer. Er hätte zum Zahnbrecher gehen
     sollen, vor der Verkündung. Vizenz drückte mit der Zunge gegen den Zahn, aber es half nicht, sie kam an den Schmerz nicht
     heran, er quälte weiter, ohne Gnade. Würde es nicht noch schlimmer weh tun beim Zahnbrecher? Er hatte von Leuten gehört, denen
     ein Stück des Kiefers mit herausgebrochen worden war, oder Nachbarzähne. Gesunde, kräftige Männer waren nach der Behandlung
     krank geworden und kurz darauf gestorben. Vielleicht verschwand der Schmerz wieder, wenn er nur lange genug ausharrte und
     ihn erduldete?
    »Ihr seid

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