Das Mysterium: Roman
an ihrem Hals. Kalt. Todverheißend.
Ein Raunen: »Ich muß dich töten. Du weißt, warum.«
Ihre Bewegungen erlahmten.
»Glaube nicht, daß ich es ohne Bedauern erledige. Es ist schade um ein junges Mädchen wie dich.«
»Bitte«, flüsterte sie. »Tut mir nichts!«
Eine Hand spielte mit ihrem Haar. »Es ist ein Jammer.« Einige Augenblicke war es still. Dann sagte die Stimme: »Du könntest
Perfecta werden, Adeline. Heilig und sündenfrei. Du mußt nur allen Begierden abschwören und lernen, die Welt zu hassen.«
|234| Ihre Gedanken rasten durcheinander, so schnell, daß sie keinen zu fassen bekam. »Was tut eine Perfecta?« flüsterte sie. Ihr
Hals tat weh dabei, es war schwer, die Luft zum Flüstern hindurchzupressen, während er vor Angst zugeschnürt war. Er brachte
sie um! Er stieß ihr jeden Augenblick die Klinge in die Kehle!
»Perfectae erziehen Kinder anderer Leute zu guten Menschen. Sie machen sie zu Angehörigen der geheimen Kirche. Es ist für
eine Frau die größte Ehre und Erfüllung, zu den Vollkommenen zu gehören. Du würdest ewiges Leben gewinnen.«
Sein Atem wärmte ihre Wange. Es ließ sie erschaudern vor Abscheu.
»Ich biete dir die Rettung an, Adeline. Man wird vor dir knien, man wird dich um Rat fragen. Du wirst eine Priesterin sein,
und wenn du dereinst alt und betagt stirbst, wird deine Seele sich in die eines Mannes verwandeln. Auf diese Weise wird sie
aus dem Kreislauf der Körper entkommen und zu Gott heimkehren.«
Die Klinge drückte beständig gegen ihren Kehlkopf. Schnitt sie schon? Oder war der Schmerz nur Einbildung? Wenn sie jetzt
ja sagte, würde dann genug Zeit bleiben, um Amiel von Ax der Inquisition in die Hände zu spielen, bevor er ihre Lüge durchschaute?
»Du sagst nichts? Anstatt mir zu danken, suchst du Ausflüchte. Ich weiß genau, was in dir vorgeht. Du willst mich hinhalten.
Du willst dein Leben retten ohne echte Hingabe an die Kirche der Vollkommenen.« Er näherte sich ihrem Ohr und zischte hinein:
»Du kannst mich nicht täuschen!« Er stockte und verharrte in dieser Haltung. Sie hörte, wie er schluckte. »Oh, du riechst
gut! Verführerische Hexe!« Sein Gesicht näherte sich ihrem, bald rührte Wange an Wange. Seine Nase fuhr ihre Ohrmuschel entlang.
Sie hörte seinen Atem beben. »Du Hexe! Hexe! Laß mich los! Laß mich in Frieden. Du darfst mich nicht verführen. Niemals.«
Er sprang auf. »Was tust du? Was tust du mit mir? Ich bin Perfectus, ich bin über Versuchungen erhaben. Ich rühre |235| keine Frau an. Dein Hexenwerk ist wirkungslos an mir! Wage es nicht!« Er stöhnte. »Dieses Verlangen!«
Sie vernahm Schritte, dann hörte sie ihn an der Truhe zerren. Endlich öffnete er die Tür und entkam.
Lange lag Adeline da, steif vor Angst. Sie atmete und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit.
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Die Hausdächer schnitten ein Stück Himmel aus. Nemo sah vom Hof hinauf. Der Wind bewegte den Rauch der Esse wie eine Fahne.
Weit oben streckte sich ein Schwarm Wildgänse aus zum schwarzen Himmelsseil, ballte sich, klumpte, dann wurde es wieder ein
Faden, eine Kette einzelner Vögel. Sie kreischten und schnatterten beim Fliegen. Über das Dach des Goldschmiedehauses hinweg
verschwanden sie. Die Gänse unten im Hof riefen ihnen aufgeregt hinterher.
Er bückte sich und schichtete Holzscheite in den Korb. Der Winter kündigte sich an. Nachts hörte man den Wind im Schornstein
fauchen, er forderte, daß man Holz in den Ofen schob und ihn heizte.
Die Augen des Perfectus’ blitzten heute nicht. Er wirkte verschüchtert. Beinahe demütig bat er Nemo um Handreichungen: das
Geschirr zu spülen, den Koteimer auszuleeren, frisches Wasser heranzuschaffen. Beim Frühmahl hatte er sehnsüchtig davon erzählt,
wie sie damals zu mehreren gewesen waren, fünf Perfecti, die sich bei der Familie de Area in Quié in einem geheimen Raum verbargen.
Man erreichte die Kammer nur durch eine große Getreidekiste, hatte er berichtet. Wein, Brot und Rosinen schickte man ihnen
in einer bemalten Schüssel hinab. In der Nacht trafen sie sich mit ihren Nachfolgern auf Dachböden, in Kellern, Scheunen und
Taubenschlägen. »Die Zeit der Verfolgung«, hatte der Perfectus gesagt, »war eine gute Zeit. Ich war nicht allein damals.«
Fühlte er sich einsam? Er sah traurig aus, ja. Gleichzeitig bemerkte Nemo eine Art Anspannung bei ihm, als stünde ein großes
Ereignis bevor. Wenn der Perfectus doch endlich
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