Das Mysterium: Roman
entdeckt.
Einmal in den Händen der Inquisition, würde es schwer wiederzubeschaffen sein.
Man gab Nemo einen Stoß. Gehen sollte er, nicht gaffen und grübeln. Er war jetzt kein geachteter Mensch mehr, er war ein Schuldiger,
der seiner Strafe zugeführt wurde. Die Prozession verließ den Hof und trat auf die Straße. Einige Frauen schlugen sich erschrocken
die Hand vor den Mund. Ein Mann spie aus und sagte: »Ketzerpack! Ausbrennen muß man es.«
War der Perfectus deshalb so angespannt gewesen? Hatte er mit seiner Festnahme gerechnet?
Adeline! Sie stand am Straßenrand. Ihr Blick ließ Nemos Sicherheit innerhalb eines Atemzuges zusammenbrechen. Er keuchte unter
diesem Blick, verschluckte sich. Was stand da in ihr Gesicht geschrieben? Mitleid? Reue? Sie rechnete offenbar mit dem Schlimmsten.
Würde man ihn und Amiel hinrichten? Wußte sie das bereits?
Neben ihr stand William Ockham, weißhaarig, mit seinem Krötenmund. Sie hatte geredet! Sie hatte dem Engländer vom roten Ketzerbuch
erzählt, endlich der Beweis, den sie brauchten, um Amiel den Prozeß zu machen, und er, Nemo, sprang zwangsläufig mit über
die Klinge. Sie opferte ihn, für ihre eigene Sicherheit?
Amiel blieb stehen. Er sah William Ockham an. »Die Welt haßt uns, seht Ihr es? So, wie sie auch unseren Herrn haßte. Hat man
Jesus Christus nicht verfolgt? Hat man seinen Aposteln nicht nachgestellt? Die Aufrechten, die Standhaften werden gefoltert,
gekreuzigt, gesteinigt. Daran kann man sie |240| erkennen. Wenn ich nicht verfolgt werden würde, müßte ich mich fragen, ob ich etwas falsch mache.«
Man zerrte ihn weiter. William Ockham erwiderte nichts. Er legte den Arm um Adelines Schulter, wie um sie zu beschützen.
Die Kirche war leer, außer ihr und den Zisterziensermönchen war niemand hier. Nur auf der Empore oben, wo sonst während der
Messe der Kaiser mit seiner Familie und den höheren Rängen der Hofbeamten saß, fegte ein Lakai den Boden.
Hier war Adelines Platz, im Gesindebereich. Daß sie die Hofkirche überhaupt betreten durfte, war ihr immer als Geschenk erschienen.
Hier wurden die Reichsinsignien gehütet. Die Reichskrone, die der Legende nach schon Karl der Große getragen hatte, mit ihren
blauen, grünen und roten Edelsteinen und dem großen Opal. Die heilige Lanze. Das Reichsschwert, in dessen Scheide Bildnisse
von vierzehn Kaisern und Königen vergangener Zeiten eingraviert waren. Das Zepter. Der Reichsapfel. Die Krönungsgewänder.
Die Kirche des heiligen Laurentius war der Ort, an dem der Kaiser Gott begegnete.
Solange der Lakai da oben fegte, konnte sie nicht beten. Sie mußte dringend beten. Aber das Fegegeräusch störte ihre Gedanken,
es verhinderte, daß sie sich innerlich sammelte. An die Anwesenheit der vier Zisterziensermönche war sie gewöhnt, Tag und
Nacht waren vier von ihnen hier, um die Reichsinsignien zu bewachen, Zisterzienser aus dem Kloster Fürstenfeld, das einst
Ludwigs Vater gestiftet hatte. Sie gehörten zur Kirche wie die Fenster. Aber der Lakai störte sie.
Oh, sie war verzweifelt. Sie war zerrüttet. Alles, was ihr Leben ausgemacht hatte, lag zerbrochen am Boden. Gräfin Giselberga
verachtete sie und wollte ihre Dienste nicht mehr haben. Amiel begehrte und haßte und bedrohte sie. Ihr Überleben hing am
seidenen Faden. Durch die Liebe zu Nemo wurde dieser Faden gedreht und schwang in weiter Bahn durch den |241| Raum, wirbelte sie herum, bis ihr schwindelig war. Sie hatte Nemo der Inquisition ausgeliefert! Sein Blick war fürchterlich
gewesen, er hatte ihr noch ärger weh getan, als sie es ohnehin befürchtet hatte.
Was nützten Williams Beteuerungen, daß man ihn nicht töten würde? Sie hatte sein Vertrauen verspielt. Nie hätte Adeline gedacht,
daß sie zu einem solchen Verrat fähig wäre. Die Angst hatte sie dazu getrieben, aber sie bereute es, nun, wo es zu spät war,
das Gesagte zurückzunehmen.
Die Kirche war groß, sie wölbte sich baldachinhaft über ihr, und doch hatte sie das Gefühl, in eine gewaltige Kleidertruhe
geflohen zu sein. In Gottes Kleidertruhe. Er mußte ihr helfen!
Sie bemerkte, daß sie sich fortwährend über den Mund fuhr. War sie dabei, den Verstand zu verlieren? Bete, Adeline! sagte
sie sich. Ob es rasch ging, daß man den Verstand verlor? All die Gestörten, Verrückten, Durchgedrehten, sie waren doch auch
einst wach gewesen. Wieder fuhr sie sich mit bebender Hand über den Mund.
Es gab schönere Kirchen in
Weitere Kostenlose Bücher