Das Nest der Nadelschlange
diese Frage.
Ratten huschten über den stellenweise aufgerissenen Boden und verschwanden in Löchern unter den Wänden. Überhaupt war der Tempel recht deutlich vom völligen Zerfall bedroht. Das wurde umso schlimmer, je näher man den Außenbezirken kam. Mythors Eindruck von gut erhaltenen Räumen war also nur Schein gewesen, so, wie die Schlange es auch verstanden hatte, seine geheimsten Wünsche und Empfindungen zu offenbaren.
Der Krieger war überrascht, Pandor vorzufinden, als er zwischen den letzten, nur noch teilweise erhaltenen Säulen hindurch ins Freie trat. Das Einhorn, das bis eben friedlich gegrast hatte, begrüßte ihn mit freudigem Wiehern. Im Schein der aufgehenden Sonne schimmerte sein Horn wie Glas.
Aber noch etwas fiel Mythor auf. Es war der Mond, der dicht über dem westlichen Horizont stand und sich anschickte, hinter den Wipfeln der Bäume zu versinken. Er war deutlich voller als in der vergangenen Nacht, die Mythor im Haus des Fallenstellers Vormen verbracht hatte.
Die Erkenntnis, zwei, vielleicht auch drei volle Tage verloren zu haben, während er sich in den Armen einer hingebungsvollen Frau glaubte, traf den Krieger hart.
*
Allein die Erwähnung der Heerscharen vom Inselteil Tainnias ließ die Schergen zu den Waffen greifen. Frerick Armos wagte nicht, sein Versteck jetzt zu verlassen. So bekam er viel von dem mit, was sie miteinander besprachen.
Der Hauptmann der Wachen schien jener mit der tiefen, brummigen Stimme zu sein. »Ich glaube nicht«, sagte er, »dass wir den Worten eines Sterbenden vertrauen dürfen. Der Mann hat so viel Blut verloren, dass er wohl kaum noch zwischen Wirklichkeit und Wahn unterscheiden kann. Außerdem stehen die Caer noch weit im Inneren Tainnias.«
»Und wenn dem nicht so ist?« fragte ein anderer. »Sieh dir den Pfeil in seinem Rücken an. Wahrscheinlich ist dieser Mann der einzige Überlebende von mehr als dreißig. Ich habe gehört, dass so viele zur Blutquelle aufgebrochen sind.«
»Er war der einzige«, schränkte der Hauptmann ein. Mit einem kräftigen Ruck riss er den Pfeil aus der Wunde und hielt ihn hoch. Die Spitze war mit Widerhaken versehen, der Schaft mehrfach gefiedert. »Seht ihn euch an. Ist das eine typische Caer-Waffe?«
»Ich weiß nicht«, sagte einer.
»Der Pfeil kann ebenso gut von einem ugalischen Bogen abgeschossen worden sein wie von einem salamitischen«, meinte ein anderer.
»Keiner weiß also Genaues.« Das war wieder die tiefe Stimme. »Dann will ich euch etwas sagen: Die Caer sind noch weit von Ugalien entfernt. Und sie würden niemanden entkommen lassen. Eher ist ein Stamm der Bergvölker aus dem Süden in Quanbes eingefallen. Aber von denen haben wir nichts zu befürchten, weil sie sich ganz sicher nicht bis nach Ugalos wagen.«
»Was sollen wir mit dem Toten machen?«
»Werft ihn in den Fluss! Ich kann jetzt keinen von euch entbehren, um ihn fortzuschaffen.«
Von irgendwoher erklang ein ungewohntes Geräusch. Fast hörte es sich an wie leiser Gesang. Das Geräusch wurde lauter. Auch die Schergen auf der Brücke wurden aufmerksam. Es kam näher.
Armos lauschte angespannt, aber noch konnte er nichts verstehen. Es war ein monotoner Singsang, den der Wind zerriss und nur bruchstückhaft mit sich trug.
Dann brachen sie aus dem Dunkel der Nacht hervor. Vermummte Gestalten, die Gesichter unter weiten Kapuzen versteckt. Immer mehr wurden es, die sich zwischen den Bäumen hindurch unbeirrbar ihren Weg suchten: Bußgänger!
Eine schauerliche Prozession, die sich ziemlich schnell bewegte. Das monotone Summen, Singen und Klagen wurde von einem lauten, fast rhythmischen Klatschen begleitet. Sie waren etwa dreißig, Männer und Frauen, und jeder hielt in seinen Händen Schnüre mit Knoten und Peitschen mit kurzen Griffen. Im Takt ihrer Schritte geißelten sie sich gegenseitig, doch keiner schrie oder ließ auch nur erkennen, dass er Schmerzen empfand. Sie bewegten sich auf die Brücke zu und schienen gar nicht zu bemerken, dass die Wachen sich ihnen entgegenstellten. Armos wurde von ihrem eintönigen Gesang mitgerissen. Er ertappte sich dabei, dass er wiegend seinen Oberkörper bewegte.
»Halt!«
Die vordersten der Bußgänger blieben stehen, aber die am Ende der Prozession, die den Befehl wahrscheinlich nicht vernommen hatten, drängten weiter vor.
»Ihr sollt stehenbleiben! Verdammt noch mal, was wollt ihr?«
»Buße tun«, klang es unter einer der Kapuzen hervor. »Unsere Aufgabe ist, die Seelen zu retten, die
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