Das Nest des Teufels (German Edition)
alle wussten, was ich als Vierjährige erlebt hatte. Das Gefühl der Ungebundenheit war berauschend gewesen: Von nun an war ich wirklich meines Glückes Schmiedin. Aber ich hatte Onkel Jari in Hevonpersii zurücklassen müssen, und dort war er ertrunken, allein, ohne mich.
Ich blickte nach Osten, in Richtung Queens. Irgendwo dort, zwischen all den anderen Gebäuden, lag die Sicherheitsakademie. Vergeblich versuchte ich sie zu entdecken. Es kam mir vor, als sei ich am Ende eines Weges angelangt. Nun hatte ich nicht einmal mehr Mike Virtue als stützenden Guru. Eine Bö wirbelte mir die Haare hoch, und mir wurde klar, dass ich jetzt wirklich auf mich selbst gestellt war. Auf David konnte ich nicht zählen, ich wusste nicht einmal, ob ich ihn je wiedersehen würde. Trankow mochte ein Verbündeter sein, doch ich traute ihm nicht. Und Laitio würde bald von dieser Welt gehen. Nur ich war noch übrig, Hilja Kanerva Ilveskero, und damit musste ich mich abfinden.
Ich blieb mehr als eine Stunde auf der Terrasse. Mal betrachtete ich die Landschaft – das Mosaik der blinkenden Scheinwerfer auf den Straßen, die Maschinen, die auf dem Flugplatz Newark landeten –, mal die Menschen um mich herum. Liebespaare hielten Händchen und küssten sich vor der Kulisse der Freiheitsstatue, Grüppchen von Jugendlichen, die noch mit dem Jetlag kämpften, machten Fotos für ihre Facebook-Seiten. Ich achtete darauf, niemandem vor die Linse zu geraten.
Ins Hotel zurückgekehrt, bestellte ich an der Bar einen doppelten Tequila und eine Schale Erdnüsse. Einem korrekt gekleideten Mann in meinem Alter, der mich ansprach, erklärte ich kurzerhand, ich wolle keine Gesellschaft. Gegen ein Uhr ging ich ins Bett, aber selbst der Tequila brachte mir lange keinen Schlaf. Die Fenster dämmten die Geräusche der Stadt, was mein Gefühl verstärkte, ganz allein auf der Welt zu sein. Im Traum schwamm ich im eiskalten Rikkavesi-See, der allmählich zufror, bis schließlich meine Schultern am Eis hafteten und ich nicht mehr vorwärtskam, so heftig ich auch strampelte. Ich erwachte von meinem eigenen Schrei. Es war sechs Uhr. Ich machte mir eine Tasse Kaffee und ging zum Joggen in den Park. Auf der Höhe von Dakota kam mir ein Jogger entgegen, ein alter Hippie, der mich mit einem High five zum Lächeln brachte.
Der Tag war mit Shoppen ausgefüllt, ich schleppte Julias Einkaufstüten. Mike hatte recht: In diesem Job vergeudete ich meine Fähigkeiten. Als Julia ins Hotel zurückkehrte, um sich für die Ankunft ihres Vaters herzurichten, machte ich einen Abstecher ins Mo MA . Ich hatte keine Lust, mir die ganze Sammlung anzusehen, sondern ging schnurstracks nach oben zu dem Porträt des Mannes mit dem gespaltenen Bart. Mit seinem runden Gesicht und den von Wind und Wetter gegerbten Wangen ähnelte er Onkel Jari; auch mein Onkel hatte oft eine blaue Schirmmütze getragen, auf der allerdings nicht Postes stand, sondern Hankkija. Mary Higgins hatte van Gogh bewundert, und ich hatte ihr einmal das Palettmesser entreißen müssen, als sie high war und auf die Idee verfiel, sich ein Ohr abzuschneiden. Mary hatte von Zeit zu Zeit behauptet, sie sehe die Welt so wie van Gogh, doch ihre Versuche, seine Maltechnik nachzuahmen, hatten damit geendet, dass sie das Ergebnis mit etwas ganz anderem übermalte. Ich hatte darin ein Zeichen für gesunde Selbstkritik gesehen.
Nachdem ich den alten Mann mit Bart lange betrachtet hatte, versuchte ich noch, die «Sternenklare Nacht» zu verstehen, nach Marys Ansicht das beste gegenständliche Gemälde der Welt. Die Farbe war ungeheuer kraftvoll aufgetragen, doch ich wusste nicht, ob hinter dieser Kraft Wut oder Leidenschaft stand. Mary hätte es mir vielleicht erklären können, aber sie lebte nicht mehr.
Iwan Gezolian saß im Foyer unseres Hotels. Ich versuchte an ihm vorbeizuschleichen, doch das gelang mir nicht.
«Guten Abend, Hilja!», rief er mir nach, und mir blieb keine Wahl, ich musste zu ihm gehen und ihn begrüßen. Seine Hand presste meine wie ein Schraubstock, aber ich erwiderte den Händedruck noch einen Grad fester. Lescha stand am Fenster und drehte eine Zigarette zwischen den Fingern – im Hotel herrschte natürlich Rauchverbot. Er brummte mir etwas zu und ging hinaus.
«Du bist schon wieder nicht bei Julia?», fragte Gezolian vorwurfsvoll.
«Sie ruht sich vom Einkaufen aus. Julia braucht nicht rund um die Uhr einen Babysitter.»
«Diese Stadt ist gefährlich. Lescha begleitet uns zum Abendessen, aber du
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