Das Nest des Teufels (German Edition)
ging, ohne Mike die Hand zu geben oder auf das zu achten, was er mir nachrief. Jack saß an seinem Schreibtisch und telefonierte, er winkte mir zu. Auch darauf reagierte ich nicht. Als ich merkte, dass die Eingangstür geschlossen war, geriet ich in Panik, doch dann entdeckte ich den Knopf, der sie öffnete. Ich rannte halb blind die Straße entlang und stieß an der Ecke gegen einen Kinderwagen. Eine Wassermelone fiel heraus und rollte auf die Straße. Ich stürzte ihr nach, um sie zu retten, als sei sie ein lebendes Wesen, aber die Frau im Sari, die den Kinderwagen schob, knurrte nur etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand. Nach einem Dankeschön klang es jedenfalls nicht. Ich gab ihr die Melone und lief weiter zur U-Bahn-Station. Das Kreischen der Räder ging mir auf die Nerven, ich nahm den MP 3 -Player aus der Tasche und gönnte mir zur Beruhigung einen Song der Eläkeläiset. «Zum Schnapsladen lauf ich, hoppla-hopp», sang die Band. Ein Tequila hätte mir jetzt gutgetan, aber während der Arbeitszeit trank ich grundsätzlich nicht.
Wie oft war ich mit der U-Bahn von Queens nach Manhattan gefahren und am Times Square oder in der 42 . Straße umgestiegen, um zur Morton Street zu kommen! Diesmal stieg ich schon an der 5 th Avenue aus, einige Blöcke vor dem Brautkleidgeschäft. Ich schlängelte mich an einer Front von Männern in korrekten Anzügen vorbei, einem von ihnen schwappte der Coffee to go auf meine Schuhe. Onkel Jari hatte es unbegreiflich gefunden, dass die Leute im Gehen aßen und tranken.
«Auch wer nur dünnen Haferschleim zu essen bekommt, sollte so viel Respekt besitzen, dass er sich hinsetzt, um ihn zu löffeln.»
In seinen Briefen hatte sich mein Onkel nach dem Leben und den Menschen in New York erkundigt. Er selbst war nur einmal verreist, als Jugendlicher nach Leningrad, er war ja erst vierundzwanzig gewesen, als er mich in seine Obhut genommen hatte. Ich hatte mir geschworen, ihn einmal zu einer Reise einzuladen, vielleicht auf die Kanarischen Inseln, doch dazu war es nicht mehr gekommen. Statt die Wärme der afrikanischen Küste zu genießen, hatte mein Onkel in eiskaltem Herbstwasser den Tod gefunden. In einem seiner Briefe hatte er gefragt, wie ich es wohl in der Millionenstadt aushielt, in der es nur Abgase und Lärm gab. Ich hatte geantwortet, die Amsel singe auch in der Morton Street.
Auch am Abend im Musical dachte ich an meinen Onkel. Als
Our Last Summer
erklang, umklammerte ich die Stuhllehne, um nicht laut loszuheulen. Diesen Song hatte Onkel Jari besonders geliebt. Julia dagegen seufzte verdrossen, denn ihr war die Aufführung nicht glanzvoll genug. Ihre Blasiertheit verhinderte, dass ich mich von der Musik und der naiven, netten Geschichte, in der am Ende alle Probleme gelöst wurden, allzu sehr mitreißen ließ. Nach der Vorstellung schlug ich vor, uns vom Empire State Building aus die Stadt anzusehen, doch Julia wollte ins Hotel.
«Ich muss schlafen, damit ich morgen frisch bin, wenn Papa kommt, und außerdem will ich Usko noch wegen des Fracks anrufen. Aber geh du ruhig hin.»
Ich begleitete Julia ins Hotel. Als ich sie sicher in ihrem Zimmer wusste, ging ich wieder hinaus und schlug den Weg nach Süden ein. Ich musste fast eine Stunde Schlange stehen, zuerst am Ticketschalter, dann am Lift, doch ich wusste, dass die Aussicht das Warten wert war. Ich zwängte mich in den Aufzug, der bereits mit Japanern, halb so groß wie ich, gefüllt war, und spürte Schmetterlinge im Bauch, als die Kabine nach oben fuhr.
Auf der Terrasse im sechsundachtzigsten Stock war es immer windig, deshalb knöpfte ich meine Jacke bis oben zu. Zuerst blickte ich nach Norden, wo die Lichter der Stadt sich unendlich weit erstreckten: Harlem, Bronx, Yonkers. Zum ersten Mal war ich nach der Aufnahmeprüfung für die Sicherheitsakademie hier gewesen. Ich hatte beim Abschlussgespräch mit Mike Virtue erfahren, dass ich bestanden hatte, und daraufhin beschlossen, meinen Erfolg so hoch oben zu feiern wie nur möglich. Damals war ich bis in den hundertzwanzigsten Stock gefahren, aber dort durfte man nicht ins Freie, und ich genoss die Aussicht am liebsten ohne trennende Fensterscheiben.
Ich erinnerte mich, wie unendlich weit mir die Welt erschienen war, als ich sie zum ersten Mal vom Empire State Building aus betrachtete. Ich durfte meine Ausbildung an einem Ort machen, von dem ich nicht einmal zu träumen gewagt hatte, weit entfernt von meinen Kindheitserinnerungen und von der Kleinstadt, wo
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