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Das Netz der Schattenspiele

Titel: Das Netz der Schattenspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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dieses riesigen Gemeinwesens sei für die Öffentlichkeit gesperrt. Einer normalen Einreise stand also nichts im Wege.
    Unter dem steinernen Bogen des Wassertores entdeckte Stella nur zwei Kontrolleure. Sie konnte es nicht fassen. Die in Blech gehüllten Männer saßen in ihrer Wachstube, durch ein geöffnetes Fenster deutlich zu sehen. Der eine winkte die Reisenden gelangweilt vorüber, der andere schlief.
    »Und wohin jetzt?«, fragte Stella.
    »Such dir einen Platz im Hafen«, antwortete das Frettchen. »Wir müssen dem Drachen zu Fuß folgen.«
    Stella gähnte. »Es wird bald dunkel. Bist du dir sicher, dass er hier gewesen ist?«
    »Bei meinen Barthaaren: ja! Und nun beeil dich endlich. Ich kann ihn kaum noch wittern.«
    Am Pier Nummer neunzehn gab es noch freie Liegeplätze. Stella steuerte einen an. Sobald sie die Luke geöffnet hatte, sprang Sesa Mina auf die Mole hinaus. Stella verschloss die Patrone und folgte dem schon ungeduldig wartenden Frettchen.
    Bald saß Sesa Mina wieder auf ihrer Schulter, denn das Gedränge in Amons Straßen war noch chaotischer als das geschäftige Durcheinander am Hafen von Amico. Für Stella wäre es unmöglich gewesen, hier noch nach einem einzelnen Fetzen Papier Ausschau zu halten, aber das Frettchen blieb weiter zuversichtlich. Über den Dächern sah Stella die riesigen Türme der Stadt aufragen. Manche waren unten breit und verjüngten sich zur Spitze hin wie die Stoßzähne eines Walrosses. Andere sahen aus wie aufeinander gestapelte Riesenäpfel. Wieder andere wirkten klobig, monumentale Kopien des Katasteramtes von Amico. Während Erstere durch ihre in der Abendsonne glänzenden metallischen Flächen, durch kunstvolle Malereien und ineinander verschlungene Ornamente bestachen, beeindruckten Letztere mehr durch ihre pure Masse. Die Schatten der Turmriesen schienen ganze Straßenzüge in Dunkelheit zu tauchen.
    Das Frettchen dirigierte seine Trägerin am Rande eines Stadtwaldes entlang und von dort in ein Labyrinth immer enger werdender Gassen, in dem Stella bald die Orientierung verlor. Ein paarmal meinte sie an Straßenecken vorbeizukommen, die sie bereits zu kennen glaubte. Dagegen sprach jedoch, dass sie dann wieder Häuser entdeckte, deren eigenwilliger Fassadenschmuck aus geschwungenen Stuckornamenten und grellen Farben ihr gewiss schon früher aufgefallen wäre.
    Mit einem Mal war es um Stella herum völlig still geworden. An einer Wegkreuzung blieb sie stehen und blickte sich nach allen Seiten um. Direkt vor ihr strebte eine gepflasterte Gasse dem Gipfel eines Hügels entgegen, der noch in das orangegelbe Licht der Sonne getaucht war. Links und rechts gab es einen Weg aus festgetretenem Lehm. Nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen.
    Stella fühlte sich ausgelaugt und müde. »Meinst du wirklich, der Drache ist denselben Weg gegangen wie wir?«, murrte sie.
    »Ja«, antwortete das Frettchen mit hörbarem Missfallen in der Stimme. »Aber es ist schon länger her. Der Wurm ist geschickter, als ich dachte. Er hat uns eine Weile im Kreis laufen lassen.«
    Stella stöhnte. Obwohl sie so etwas ja schon geahnt hatte, fragte sie nörgelnd: »Hättest du das nicht für dich behalten können? Ich kann auch so kaum mehr laufen.«
    »Jetzt sind wir ihm ja wieder auf den Fersen.«
    »Du meinst…?« Mit einem Mal war Stella wieder hellwach.
    Sesa Minas Barthaare zitterten. »Er ist hier ganz in der Nähe.«
    In Ermangelung einer geeigneten Waffe bückte sich Stella nach einem faustgroßen Stein. »Ich glaube nicht, dass ich ihm hier gewachsen bin«, flüsterte sie, während ihre Blicke suchend hin und her wanderten. »Mir wäre es am liebsten, wir könnten ihn bis zu seinem Nest verfolgen. Dort wäre es ein Leichtes, ihm aufzulauern. Zuvor müsste ich allerdings noch wissen, wie man einen Lindwurm unschädlich macht.«
    »Ich würde ihm die Kehle durchbeißen«, schlug Sesa Mina vor.
    Stella bedachte das Frettchen mit einem strafenden Blick. »Wohin ist er gelaufen?«
    »Dort die Gasse hinauf. Ich vermute, er versteckt sich in einem der Häuser und…«
    Sesa Minas Stimme erstarb. Mit gesträubten Nackenhaaren sah sie die Gasse hinauf. Stellas Augen folgten dem Blick des Frettchens und sofort verhärteten sich auch ihre Muskeln. Eine grausige Kälte durchflutete ihren Körper, als sie den Schatten wieder erkannte.
    Der Schemen, groß wie zwei Ochsen, aber wesentlich länger, näherte sich ihnen mit beunruhigender Geschwindigkeit. Flach und beinahe formlos floss er regelrecht

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