Das Netz der Schattenspiele
den abschüssigen Weg herab. Diesmal, so schien es, würde Stella dem Lindwurm nicht entkommen können. Er war nur noch zwei Giebelbreiten von ihr entfernt. Erst in diesem Augenblick begriff sie es.
Der Drache flog über die Häuser hinweg! Stella hatte nur seinen Schatten gesehen. Und doch: Wie konnte es diesen Schatten am Boden geben, wenn doch keine Sonne mehr am Himmel stand?
Stella fehlte die Muße, um über dieses Phänomen nachzudenken. Der Lindwurm war es, der sie interessierte, nicht sein Schatten. Doch die Gelegenheit war vertan. Nur für den Bruchteil eines Augenblicks sah sie das fliegende Wesen noch auf Höhe der Dächer; mehr eine Ahnung als ein klares Bild. Dann krachte es plötzlich.
Das herzförmige Schwanzende hatte noch das Dach eines Hauses gestreift. Scheppernd landeten die Bruchstücke der Ziegel auf der Straße. Einige der feinen roten Splitter trafen Stellas Beine, was dank ihrer dicken Hosen jedoch folgenlos blieb.
»Wir müssen ihm hinterher«, rief Sesa Mina. Der Jagdinstinkt hatte sie gepackt, die Größe des Wildes spielte offenbar überhaupt keine Rolle.
»Nein«, widersprach Stella. »Zweimal habe ich dem Lindwurm jetzt schon gegenübergestanden und jedes Mal hätte er mich ohne weiteres in den Boden stampfen können. Ich muss mir erst eine geeignete Waffe suchen, mit der ich ihm trotzen kann. Ehrlich gesagt, ich kann auch nicht mehr. Ich bin so müde wie…«
In diesem Augenblick sah sie schemenhaft etwas zu Boden trudeln. Zuerst dachte sie an ein Blatt, das vielleicht der Wind von einem Baum gezupft hatte, aber dann bemerkte sie die sonderbare Form. Kein Baum besaß rechteckige Blätter.
Mit bleischweren Gliedern schlurfte Stella zu den Ziegeltrümmern, in deren Mitte das Blatt gelandet war. Sie bückte sich danach und hob es auf. Nachdenklich betrachtete sie das Papier in ihrer Hand. Wie sie erwartet hatte: Auch die erste Hälfte des Schattenworttextes war unleserlich. Immerhin, vielleicht ließ sich jemand finden, der diese fremdartigen Runen entziffern konnte…
Schlagartig wurde ihr bewusst, welchen Fehler sie begangen hatte! Sie besaß ja nur die eine Hälfte der geheimnisvollen Inschrift. Die andere lag noch im Katasteramt von Amico!
Diese deprimierende Erkenntnis raubte Stella die letzten Kräfte. Während sie noch den Fetzen achtlos in ihre Bluse stopfte, begann sie einfach loszugehen.
»Wo willst du denn hin?«, rief ihr Sesa Mina nach.
»Weiß nicht. Am besten nach Hause. Ich brauche Schlaf.«
»Und der Lindwurm?«
»Morgen ist auch noch ein Tag.«
Inzwischen hatte Sesa Mina ihre Herrin wieder eingeholt, war mit einem Satz auf ihren Rücken gesprungen und machte es sich nun auf Stellas Schulter bequem. Stella bog gerade in eine etwas breitere gepflasterte Straße ein und stapfte ziellos weiter. Sie fühlte sich völlig entkräftet und – was vielleicht schlimmer war – entmutigt.
Mehr noch als die Suche nach dem Schattenwort und die Verfolgungsjagden mit dem Drachen hatten sie wohl die Misserfolge dieses Tages zermürbt. Der Wurm war weg und der zerteilte Text so gut wie unbrauchbar. Und darüber hinaus war dann noch dieser zweite Schemen im Katasteramt von Amico aufgetaucht, der Stella nicht aus dem Kopf gehen wollte. Woher war er gekommen? Hatte er sie womöglich beobachtet? Der Gedanke an ihn wirkte nicht gerade belebend auf sie. Planlos bog sie in eine Quergasse ein und bald darauf wieder in einen breiteren Weg. Weiter unten konnte Stella den Stadtwald sehen.
Sesa Mina fasste sich ein Herz und beschloss, ihre stumm vor sich hin brütende Herrin aus deren Versenkung zu reißen. »Sollten wir nicht einfach hier übernachten? Dann könnte ich gleich morgen früh die Spur wieder aufnehmen.«
»Wäre das eine Hilfe für dich?«
»Je frischer die Witterung, desto zarter die Beute, sagt ein altes Frettchensprichwort.«
Stella blieb unvermittelt stehen, überlegte und erwiderte schließlich: »Also gut. Dann suchen wir uns ein Gasthaus. Du kannst mir nicht zufällig dabei helfen?«
»O wenn Ihr doch endlich meine Fähigkeiten zu schätzen wüsstet, Herrin!«
»Mir ist jetzt nicht zum Spaßen zumute, Mina. Wenn es hier in der Nähe eine Herberge gibt, dann bring mich einfach hin.«
Das Frettchen keckerte belustigt. »Nichts leichter als das. Du stehst schon so gut wie davor.«
Der Gasthof Zum Nussknacker schien nicht eben ein Etablissement der gehobenen Klasse zu sein. Der Ausdruck Spelunke kam da der Wahrheit schon näher. Das Schild über dem Eingang
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