Das Netz der Schattenspiele
ihre Finger ja eigentlich nur durch die Luft glitten, spürte sie einen deutlichen Druck, ja, einen regelrechten Widerstand im Datenhandschuh. Bestätigt wurde diese Illusion noch durch das Bild der VR-Brille: Das Ei rührte sich nicht von der Stelle. Es war also gar nicht daran zu denken, es anzuheben und bis zur Quelle zu tragen…
»Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg sich eben zum Propheten bemühen«, murmelte Stella. Schlagartig war ihr die Lösung des Problems eingefallen: Sie konnte zwar nicht das Ei zur Quelle transportieren, aber vielleicht gab es eine Möglichkeit, das Wasser in den Gang zu leiten, der in diese große Höhle führte.
Ohne Zögern setzte sich Stella wieder in Bewegung. Zum dritten Mal durchquerte sie jetzt das Gangsystem zwischen der Eierhöhle und dem Quellbecken. Diesmal achtete sie besonders auf den Boden. Sie war sich nicht sicher, aber offenbar fiel der Weg zur Höhle hin wirklich ein wenig ab. Manchmal entdeckte sie sogar regelrechte Rinnen darin – ein ideales Bachbett.
Bald hatte sie wieder das kreisrunde Bassin erreicht. Sogleich balancierte sie auf dem flachen Rand der Einfassung entlang, bis sie sich oberhalb des Abflusses befand. Sie beugte sich herab und stocherte zwischen den Pflanzen im Wasser herum. Wenig später hatte sie die Öffnung entdeckt, die den Bach speiste. Stella richtete sich wieder auf und blickte sich um. Das Loch war nicht sehr groß; wenn sie ihre beiden Fäuste zusammenlegte, würden sie vermutlich gerade noch durch die Öffnung passen. Doch womit sollte sie den Durchlass verschließen?
Leider lagen nirgendwo Korken oder andere nützliche Dinge herum. Sie dachte an Spiele, bei denen man scheinbar wertlose Objekte einsammeln musste, um sie später sinnvoll einsetzen zu können. Aber so angestrengt sie auch ihren bisherigen Weg durch die Höhlenwelt des Kagee Revue passieren ließ, sie erinnerte sich an keinen Gegenstand, mit dem dieser Abfluss zu verstopfen war.
»Also hast du ihn entweder übersehen, oder er muss sich hier irgendwo verbergen!«
Sie suchte noch einmal das Quellbecken ab, stieg sogar hinein und tastete nach irgendwelchen Pfropfen, aber nichts dergleichen ließ sich finden. Während sie noch im Wasser stand und beinahe schon aufgeben wollte, streifte ihr Blick die Pflanzen, die den Abfluss umwucherten. Mit einem Mal war ihr klar, wie sie den Strom der Quelle umleiten konnte.
Stella watete bis zum Beckenrand und begann mehrere der langen Stiele auszureißen. Sie waren ungefähr so dick wie ihr kleiner Finger und hatten jeweils zwanzig bis dreißig schmale, lanzettförmige Blätter. Stella drückte die Ruten zusammen und verknotete sie miteinander. Dann nickte sie zufrieden. In ihrer Hand lag eine kleine grüne Kugel, noch zu klein, um den Wasserabfluss verstopfen zu können, aber auf diese Weise musste es gehen. Sie rupfte weitere Wasserpflanzen aus und formte einen immer größer werdenden Ballen.
Endlich hatte die grüne Kugel die richtige Größe. Vom Rand des Quellbeckens scharrte sie noch etwas Geröll zusammen und stopfte es dann gemeinsam mit dem Pflanzenpfropf in die Öffnung.
Schnell versiegte der starke Strahl, der den Bachlauf speiste. Nur ein schwaches Rinnsal kam noch hervor. Stella nickte zufrieden. Der Pfropfen erfüllte seinen Zweck – jedenfalls für eine gewisse Zeit. Er hielt genügend Wasser zurück, um den Pegel im Becken schnell ansteigen zu lassen.
Stella kletterte aus dem Bassin und beobachtete den trockenen Streifen zwischen der Wasserfläche und dem oberen Beckenrand, der nun stetig schmaler wurde. Wie sie bereits vermutet hatte, neigte sich die steinerne Schüssel unmerklich zur Eierhöhle hin. Zuerst war es nicht mehr als ein Wasserfinger, der das Becken überwand und den Boden berührte. Bald jedoch schwappte das warme Nass auf einer Breite von mindestens anderthalb Metern über die Einfassung. Ein neuer Quellbach war entstanden.
Es dauerte nicht lange und Stella musste vor dem Wasser herlaufen, das zielstrebig durch das Gangsystem gurgelte. Bald erreichte der Bach die Höhle mit dem großen Ei und hielt wie selbstverständlich darauf zu. Wer immer es genau in dieser Höhle exakt an diese Stelle gelegt hatte – Stella war mittlerweile so tief in das Kagee eingetaucht, dass sie gar nicht auf den Gedanken kam, dieser Jemand könne ihr Vater gewesen sein –, er hatte damit voll ins Schwarze getroffen. Am Boden unter dem Ei befand sich eine Wölbung, in der sich das warme Wasser des Baches
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