Das Netz der Schattenspiele
geworfen habe, aber ich hatte einfach nicht die Muße für längere Verhandlungen. Dieser Jutwald war doch auch ganz nett. Ich gönne ihm die paar Kronen.«
»Noch ein paar von solchen Großzügigkeiten und du bist pleite.«
»Die Macht des Wortes in allen Ehren, aber wenn wir das nächste Mal dem Lindwurm gegenüberstehen, dann will ich nicht nur mit einer Schriftrolle bewaffnet sein, Mina. Lass es gut sein. Wir haben jetzt eine ordentliche Waffe. Nun können wir wieder nach dem Lindwurm jagen. Ich finde, jetzt wäre ein passender Augenblick, um mir ein paar Vorschläge zu unterbreiten.«
Sesa Mina stieß ein Geräusch aus, das man wohl nur als Frettchenlachen interpretieren konnte. »So ist es immer. Die Großen schieben alles auf die Kleinen ab. Wir machen natürlich da weiter, wo wir gestern aufgehört haben. Ein Problem gibt es allerdings: Der Drache ist durch die Luft geflohen.«
Stella nickte. »Ich verstehe. Du hättest gern ein paar Flügel, um ihm nachzusetzen.«
»Pfui Spinne! Sehe ich aus wie eine Fledermaus?«
»Eigentlich nicht. Wenn wir also Pech haben, dann sind wir keinen Schritt weiter als gestern früh.«
»Nicht ganz. Du hast immer noch das halbe Manuskript. Wenn’s sein muss, können wir noch einmal nach Amico zurückkehren und uns auch noch die andere Hälfte holen.«
»Aber dieser Schattenworttext ist doch… Ach, ich weiß auch nicht. Was soll ich damit anfangen, wenn ich ihn nicht lesen kann?«
»Wie wär’s, wenn du dir jemanden dafür suchst?«
Stella hatte das Fragment am vergangenen Abend in ihrem Rucksack verstaut. Nun zog sie es wieder hervor und betrachtete die fremdartigen Runen. »Ich glaube, der Letzte, der so etwas lesen konnte, ist bestimmt schon vor tausend Jahren gestorben.«
»Die Welt ist voller Wunder, Stella. Doch zu ihrer Entdeckung braucht es mehr als nur den Willen. Man muss auch an sie glauben, dann wird man sie nicht übersehen.«
Stella blickte ihr Frettchen nachdenklich an. Sesa Mina war der lebende Beweis für den Wahrheitsgehalt ihrer eigenen Worte. »Du hast Recht, Mina. Lass es uns versuchen. Irgendwo finde ich eine vertrauenswürdige Person, der ich das Manuskript zeigen und die uns helfen kann.«
»So gefällst du mir schon wieder viel besser.«
»Wenn ich es mir recht überlege«, sagte Stella aufgeräumt, »dann war es vielleicht gar kein Zufall, dass wir den jungen Wurm im Keller des Katasteramtes von Amico aufgespürt haben. Könnte doch sein, er wollte sich sogar von uns finden lassen. Was meinst du?«
»Manchmal kannst du ganz schön sprunghaft sein, Stella. Erst zutiefst niedergedrückt und dann himmelhoch jauchzend. Ich mag Drachen nicht besonders. Aber man muss ihm wohl zugute halten, dass er uns nicht gefressen hat.«
»Im Gegenteil, er ist sogar vor uns geflohen.«
Sesa Mina keckerte. »Ich sagte ja bereits, du musst irgendetwas Furcht Erregendes an dir haben.«
»Ach, Unsinn. Ich kenne den Lindwurm. Woher wüsste ich sonst seinen Namen? Es gibt da ein Geheimnis, das mich mit ihm verbindet…«
»Dann lass uns nicht länger grübeln, sondern endlich handeln. Die Fährte wird sonst doch noch kalt.«
Nach einem kurzen Frühstück, das aus Brot, Käse und Wasser bestand, bezahlte Stella den freundlichen Wirt, bedankte sich für die Gastfreundschaft und verließ das Wirtshaus Zum Nussknacker. Während sie sich an Sesa Minas Schwanzende heftete, den neu erworbenen Speer fest in ihrer Faust, sann sie darüber nach, weshalb ihr der Name der Schenke anfangs ein solches Unbehagen bereitet hatte. Schließlich gab sie es auf. Manche Dinge waren und blieben eben ein Geheimnis.
Der Schattenworttext aus Amico würde hoffentlich nicht zu dieser Kategorie von Rätseln gehören. Unwillkürlich musste sie wieder an das vom Drachenrücken gefallene Fragment denken. Wenn sie nur nicht so dumm gewesen wäre und die andere Hälfte in…
Stellas Gedanken stockten. Mit einem Mal stand die Szene in dem dämmrigen Keller von Amico wieder deutlich vor ihrem inneren Auge. Ja, mehr noch, sie sah die untere Hälfte des Manuskripts und in ihrem Kopf fügte diese sich mit dem oberen Teil, der nun in ihrem Rucksack steckte, zu einem Ganzen zusammen. So als hielte jemand ihr das unversehrte Blatt vor die Nase, erkannte sie jedes einzelne Schriftzeichen. Sie konnte es kaum fassen, denn die meisten der Runen waren ihr doch völlig fremd und der lückenlose, absolut unverständliche Text hatte alles andere, nur kein einprägsames Versmaß. Noch ehe sie sich
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