Das Netz der Schattenspiele
spitzfindig«, kicherte Sesa Mina.
Stella blinzelte ihr Frettchen verwirrt an. Weil sie mit der Bemerkung nicht viel anfangen konnte, fragte sie: »Kannst du mir sagen, wie die Lanze durch den Stein dringen konnte? Sie hätte doch daran zerbrechen müssen und nicht durch ihn hindurchgehen, als wäre er nur aus Butter.« Tatsächlich steckte die Speerspitze hinter dem Stein in der Erde, während der lange Schaft noch in der durchstoßenen Platte hing.
»Du hast doch nach einem Hinweis für die Lindwurmjagd gesucht«, sagte Sesa Mina. »Ist dir schon aufgefallen, was der Speer eigentlich getroffen hat?«
»Einen Grabstein wie alle anderen… Nein, halt. Er ist schwarz wie sonst keiner hier. Aber was soll daran besonders sein?«
»Sieh noch einmal genauer hin.«
Stella beugte sich zu der Steinplatte hinab, die ihr nur knapp bis zur Hüfte reichte. Jetzt erkannte sie, was das Frettchen meinte. Auf der verwitterten Oberfläche, dicht unter dem oberen Abschlussbogen des Quaders, befand sich ebenfalls eine runde Scheibe. Merkwürdigerweise besaß sie aber keine Flügel wie all die anderen, die Stella bisher aufgefallen waren.
»Eine schwarze Sonne«, murmelte sie. Nun, da ihre Aufmerksamkeit auf den Stein und nicht mehr auf die Lanze gerichtet war, stach ihr noch etwas ins Auge: die Inschrift.
»R. I. P.« stand da. Requiescat in pace, ruhe in Frieden. Nicht gerade ungewöhnlich für einen Grabstein. Aber unter den drei Buchstaben gab es noch eine weitere Zeile: »Der Dunkle Lauscher«.
Stella las die drei Wörter mehrmals, erst in Gedanken, dann formten auch ihre Lippen den Namen, der eher wie ein Titel klang. Oder wie eine Berufsbezeichnung.
»Vielleicht war er Spion«, sagte sie, nur, weil ihr gerade nichts Besseres einfiel. »Ein Spion unter einer schwarzen Sonne. Was fangen wir nun damit an?«
»Blaxxun!«, zischte das Frettchen.
»Gesundheit.«
»Das ist ein Name«, erklärte Sesa Mina verärgert. »Die schwarze Sonne ist das Wahrzeichen der Stadt Blaxxun. Dorthin müssen wir reisen.«
Stella starrte zuerst ihr Frettchen und dann den pechschwarzen Grabstein an. Schon wieder hatte Sesa Mina ihr einen Weg gewiesen. Oder war es jemand anderer gewesen? Warum hatte der Speer gerade diesen Stein getroffen, weit ab von jeder normalen Flugbahn? Und weshalb hatte er genau das Herz dieser schwarzen Sonne durchbohrt? Es gab nur eine Möglichkeit das herauszufinden. Sie mussten die Suche nach dem Lindwurm unterbrechen und nach Blaxxun reisen.
Der Speer lag neben Stella in der Patrone. Seltsam, wie leicht sie ihn aus dem Grabstein hatte ziehen können. Langsam löste sich das Zettelchen mit dem geheimnisvollen Ortsnamen in der Navigationsröhre auf und färbte die Flüssigkeit darin tiefblau.
Auf dem Weg zum Hafen war Stella wieder einiges von dem in den Sinn gekommen, was sie von Blaxxun wusste. Im Grunde genommen herzlich wenig. Der Ort lag an den Grenzen Illusions. Manche behaupteten sogar, es gäbe ihn überhaupt nicht. Sesa Mina hatte Stella einen anderen Namen genannt, den sie auf den Zettel schreiben sollte. Mit »Blaxxun« werde die Patrone genauso wenig in Fahrt kommen wie ein Karren mit vorgespannter Maus. Dies sei eben nur die Bezeichnung, die der Volksmund benutze. Stella hatte keine Ahnung, woher das Frettchen den wahren Namen Blaxxuns kannte, aber dieses hatte glaubhaft versichert, die geheime Folge von Schriftzeichen würde ihnen den richtigen Weg weisen.
Stella begab sich klaglos in Sesa Minas Pfoten. Es hatte sowieso keinen Zweck, dem Frettchen zu widersprechen. Wenn es darum ging, einen Weg zu finden, dann besaß Mina einen sechsten Sinn – und vermutlich noch einen siebten und achten dazu. Jedenfalls schoss die Patrone bald ihrem fernen Ziel entgegen.
Die Mauern von Blaxxun waren nicht besonders hoch, aber sie schimmerten vor Weißglut. Da die Stadt in einer weiten Ebene lag, konnte Stella von erhöhter Warte aus erkennen, dass sich hinter dem Außenwall noch eine zweite Mauer befand, die Blaxxun in zwei Hälften teilte. Das war nichts Ungewöhnliches in Illusion.
Viele Städte besaßen einen verbotenen Bezirk, der nur wenigen Personen zugänglich war.
Während die gläserne Patrone auf Blaxxun zuschoss, hingen Stellas Augen an dem großen schwarzen Gebäude im Herzen der Stadt. Die innere Mauer schien mitten durch den Bau hindurchzugehen, dessen polierte Fassade in der Sonne glänzte wie der Panzer eines riesigen Käfers.
»Das ist The Black Sun«, sagte Sesa Mina. Sie hatte es sich
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