Das Netz der Schattenspiele
nicht anders zu helfen. So hielt sie also den Speer waagerecht in der Rechten, balancierte ihn noch einmal aus und schleuderte ihn dann mit aller Kraft die Gasse hinauf.
Mit einem Zischen rauschte das Wurfgeschoss davon. Stella blickte ihm entgeistert nach. Nun gut, sie war wahrscheinlich kräftiger, als es sich für ein Mädchen ihrer Statur ziemte, aber so stark dann doch wieder nicht. Die Lanze flog wie vom Katapult geschossen in weitem Bogen hangaufwärts und entschwand hinter der Kuppe ihrem Blick.
»Toller Einfall!«, kommentierte Sesa Mina lakonisch. »Wenn du jetzt zu mir sagst: ›Hols Stöckchen‹, dann kündige ich dir die Freundschaft auf. Nein, besser noch: Ich beiß dir die Nase ab.«
Stella sah einen Moment lang verunsichert auf ihr Frettchen herab, sich nicht sicher, ob Sesa Mina dazu wohl fähig wäre. Aber dann wandte sie sich wieder der ansteigenden Gasse zu.
»Wollen doch mal sehen, wo das Ding nun wirklich runtergekommen ist.«
Sie setzte sich in Bewegung und ging mit weiten Schritten die Gasse hinauf, die der Speer in nur einem Augenblick hinter sich gebracht hatte. Kaum richtig in Fahrt gekommen, spürte sie Sesa Minas Gewicht auf ihrer Schulter landen. Unwillkürlich zuckte sie zusammen.
»Keine Angst, das mit der Nase war nur ein Scherz!«, beruhigte sie das Frettchen.
»Dein Humor lässt in letzter Zeit sehr zu wünschen übrig, Mina.«
Bald erreichten Stella und ihr lebender Pelzkragen den höchsten Punkt der Straße. Anders als erwartet fiel die Gasse hier nicht einfach wieder in ein neues Straßengewirr ab, sondern die ganze weitläufige Kuppe des Hügels war ein einziger großer grüner Park… Kein Park, musste sich Stella korrigieren, als sie die aufrecht stehenden Steinplatten sah. Ein Friedhof.
Langsam schritt sie an den Grabsteinen vorbei, die großzügig über das Areal verstreut waren, wie die letzten Trümmer einer vor langem geplünderten Stadt. Irgendwo anders hatte sie so einen Friedhof schon einmal besucht. Sie versuchte sich zu erinnern, aber ihr Gedächtnis gab sich zugeknöpft.
Die Steine waren ausnahmslos alt. So alt wie die Namen, die darauf standen: Gwenhwyfar, Accolon, Guntram und Adalrich reihten sich hier in stummer Eintracht mit Merlin, Pellinores, Mechthild und Petronilla. Wer mochten diese Bewohner Amons gewesen sein, deren Namen hier im Kampf gegen Witterung, Moos und trockene Flechten auf verlorenem Posten standen? Bald würde niemand sie mehr lesen können. Stella ließ nachdenklich den Blick über das von Wachholder und anderem immergrünen Gewächs bestandene Gebiet schweifen. Hier und da gab es auch einige mächtige Laubbäume, die so ehrwürdig anmuteten wie uralte Weise. Stella hatte in ihrem Leben nur wenige Orte kennen gelernt, die ihr ein ähnliches Gefühl der Ruhe und Besinnlichkeit vermittelten.
Etliche der Grabtafeln ragten schief aus dem grünen Rasen, wenige waren sogar umgestürzt oder zerbrochen. Viele der steinernen Rechtecke besaßen eine bogenförmige Oberkante. In diesem stilisierten Firmament befand sich immer dasselbe Motiv: eine Scheibe mit je einem Flügel an der Seite. Hier und da zierten auch Totenköpfe die grauen Steinplatten, aber dieser makabre Schmuck war eher Ausnahme als Regel.
Stella versuchte sich die Flugbahn vorzustellen, die der Speer über dem Friedhof genommen haben musste, doch so großzügig sie diese Schneise auch bemaß, von der Waffe fehlte einfach jede Spur.
»Das gibt es doch nicht! Der Spieß muss doch hier irgendwo sein…«
Plötzlich hatte sie ihn entdeckt. Es war purer Zufall! Der fast schwarze Ebenholzschaft ragte unter einer tief hängenden Weide hervor. Hätte der Wind nicht gerade die Zweige des Baumes bewegt, wäre ihr der Speer niemals aufgefallen. Stella eilte auf den Baum zu.
Je näher sie dem Speer kam, desto rätselhafter erschien ihr dessen Einschlagsort.
Die vom Alter gebeugte Weide lag so weit von der verlängerten Linie der Straße entfernt, dass die Lanze schon einen ziemlich scharfen Bogen hätte schlagen müssen, um hier niedergehen zu können. Aber das war doch unmöglich! Oder hatte der Waldläufer mit den wundersamen Eigenschaften des Speeres doch nicht übertrieben?
Stella schob die Zweige der Weide wie einen Vorhang zur Seite und blieb staunend stehen. So etwas hatte sie noch nicht gesehen! Unter dem Dach des Baumes stand ein einzelner schwarzer Grabstein, mindestens eine Handbreit dick, und mittendurch hatte sich der Speer gebohrt.
»Du bist heute ganz schön
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