Das Netz der Schattenspiele
Strafe verdient.
Es war schon lange nach Mitternacht, als sie endlich einschlief. Salomons Tarnanlage erzeugte wieder Nowoges, »normale Wohngeräusche«. Wenn es da noch jemanden gab, der zuhörte, dann würde er selbst bald vor Langeweile einnicken.
Salomon war noch weit von jeder Ruhe entfernt. Stellas regelmäßige Atemzüge untermalten seine nächtliche Suche im Internet. Es gab da nämlich noch einige Fragen, die ihre Reise nach Illusion aufgeworfen hatte, gewisse Punkte, deren Aufklärung keinen Aufschub duldete.
Der Speer blieb ihm ein Rätsel. Stella hatte ausführlich von dieser seltsamen Waffe erzählt. Er war mitten durch den schwarzen Grabstein gedrungen – ein ziemlich spektakulärer Effekt. Das Reiseprotokoll enthielt einige Hinweise auf diesen Vorfall, aber es erwies sich als ziemlich schwierig, Stellas Erlebnisse mit den schwer verständlichen Zeichenfolgen aus dem Internet in Verbindung zu bringen.
Was stellte dieser Speer dar? Mark hatte das Gefühl, es hier mit mehr als nur einer Manifestation von Stellas Schutzbedürfnis zu tun zu haben. Der Name Blaxxun fand sich nämlich wirklich in jenem Abschnitt des Reiselogbuches, der Stellas Aufenthalt in Amon – dem Server von America Online – dokumentierte. Irgendjemand musste sie also dorthin gelotst haben.
Gegen drei Uhr am Montagmorgen hatte er das Geheimnis des Speers entschlüsselt. Was zunächst nur wie ein Produkt der Phantasie Stellas erschienen war, existierte im AOL-Server wirklich, und zwar in Form von Software! Die Lanze war ein Traumbild für ein Programm, ebenso wie auch das Frettchen Sesa Mina. Jemand hatte Stella einen Virus angehängt.
Zuerst hatte Mark es nicht glauben wollen, aber als er sich die Konstruktion seines SKULL-Testers ins Gedächtnis rief, war ihm klar, wo dessen Schwachpunkt lag. Der Tester war nicht als Verteidigungs-, sondern als Angriffswaffe entwickelt worden. Unter den Laborbedingungen der Universität war es nicht notwendig, ja, nicht einmal erwünscht gewesen zu verhindern, was der Entwickler des Speer-Virus mit dem Intruder angestellt hatte. In dem Moment nämlich, als der im Intruder wirkende aktive Teil des SKULL-Testers auf den Blaxxun-Namen gestoßen war, hatte der Virus die dabei entstehende Kommunikationsverbindung genutzt, um seinerseits in den NSA-Rechner einzudringen. Das war von der Firewall nicht einmal bemerkt worden, weil sich alles über Marks geheimen »Seiteneingang« abgespielt hatte.
Raffinierter Bursche!, dachte Mark. Er selbst benutzte zwar mit der so genannten ADI, der »aktiven digitalen Immunisierung«, in SKULL genau das gleiche Verfahren, aber bisher beherrschten nur wenige Hacker diese aufwendige Methode.
Der Speer hatte Stella nach Blaxxun und damit auch zu Jessica geführt. Steckte sie etwa hinter diesem virtuellen Wurfgeschoss, das alles traf, was man nur anvisierte?
Zunächst schrieb Mark eine verschlüsselte E-Mail, in der er Jessica gerade diese Frage stellte und ihr einige weitere Dinge erklärte. Stella hatte die Studentin als Verbündete gewählt. Mark setzte nur fort, was seine Tochter begonnen hatte. Anschließend machte er sich daran, den Virus abzukapseln. Er hätte ihn auch entfernen können, aber das wollte er nicht. Wer immer den »Speer« mit Stella und ihrem Frettchen verbunden hatte, mochte damit vielleicht das Ziel verfolgen, ihr bei der Suche nach dem Kagee- Mutanten zu helfen. Selbst wenn der Virus aggressiv sein sollte, konnte er, einmal aktiviert, einen Hinweis auf den Cyberwurm liefern.
Bis um fünf Uhr morgens baute Mark aus Komponenten, die teilweise schon vorgefertigt waren, einen halbdurchlässigen Softwarepanzer, der dem Speer-Virus größtmögliche Bewegungsfreiheit gewährte, aber jeden zerstörerischen oder verräterischen Zugriff auf den Intruder verhinderte. Die Java-Programmierer nannten so etwas einen »Sandkasten«: Das Baby durfte darin nach Herzenslust spielen und herumtollen – nur über die Begrenzung des Buddelkastens kam es nicht hinaus.
Müde, aber auf eine ihm vertraute Weise auch aufgekratzt begab sich Mark ins Bett, während über dem Bau 203 schon die Sonne aufgegangen war. Der Vorfall mit den Interkontinentalraketen hatte ihm vor Augen geführt, dass er seine Zustimmung zu Stellas neuer Reise nicht verweigern durfte. Aber nun hatte er wenigstens alles getan, um ihr das nötige Rüstzeug mit auf den Weg zu geben: Der Speer war nicht mehr länger gefährlich für Stella; es gab einen neuen »Schleichpfad« aus dem
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