Das Netz der Schattenspiele
Silhouette mehr erahnt als wahrgenommen.
»Du hast gesagt, wir würden so früh wie möglich nach Blaxxun zurückkehren.«
Zaghaft hob Stella noch einmal die Augenlider, diesmal langsamer. War das wirklich ihr eigenes Haus, in dem sie sich befand, ihr eigenes Bett, in dem sie schlief? Es sah jedenfalls so aus. Draußen klopfte die Morgensonne an das Fenster, aber die kleinen Butzenscheiben ließen das Licht nur in Raten ein. Trotzdem hatte es Stellas schlaftrunkene Augen völlig überrascht.
»Wie bin ich hierher gekommen?«
Sesa Mina hockte immer noch auf ihrer Brust und übte sich in der menschlichen Geste des Kopfschütteins. »Das frage ich mich auch. Ich weiß es nicht. Bin auch vor kurzem erst aufgewacht und habe dann draußen einen kleinen Spaziergang gemacht.«
Stella blickte sich argwöhnisch um. Sie lag in ihrem Bett. Zu Hause. In Enesa. »Bist du denn sicher, dass wir uns hier nicht in irgendeiner Theaterkulisse befinden?«
»Bist du denn sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«
Stella richtete sich auf. Hinter ihrer Stirn klopfte ein Schmerz, ein aufdringlicher Bote, der sich nicht abwimmeln ließ. Was hatte sie noch gleich in Blaxxun gewollt? Ja, es war um das Manuskript aus dem Katasteramt gegangen, den geheimnisvollen Runentext. Jetzt kam die Erinnerung wieder. Elektra hatte ihr helfen wollen, das unbegreifliche Schriftstück zu entschlüsseln.
»Hat dich die Nachbarin gesehen?«
»Nein. Die Wäscherin Wilhelmine hat draußen die Marder gefüttert. Sie weiß anscheinend gar nicht, dass wir zurück sind.«
»Dann wird es wohl auch besser sein, wir belassen es dabei.«
»Heißt das nun, wir gehen wieder nach Blaxxun, oder heißt es das nicht?«
»Natürlich gehen wir, besser gesagt, wir fahren. Ich mache mich nur schnell frisch. Kannst dir ja schon mal überlegen, wie wir unauffällig aus der Stadt herauskommen.«
Stella brauchte nicht lange, um sich herzurichten. Wie schon während ihrer letzten Reise wählte sie wieder die lederne Tracht und schnallte sich den Rucksack um. Als sie nach dem Speer greifen wollte, zögerte sie.
Die Waffe war ihr unheimlich. Sie musste daran denken, wie das Wurfgeschoss geflogen war und den schwarzen Grabstein durchbohrt hatte. Konnte es sein, dass in dieser Lanze eine Gefahr lauerte? Wenn sie denn Kräfte barg, die über das normale Begriffsvermögen hinausgingen, konnten sich dann diese Gaben nicht auch zu ihrem Schaden entfalten?
Stella schüttelte den Kopf. Der Gedanke war wohl nur ein Hirngespinst. Immerhin hatte der Spieß sie zu Elektra geführt. Sie packte den schwarzen Ebenholzschaft und eilte dem Ausgang entgegen.
»Und? Hast du schon überlegt, wie wir an den Kontrolleuren vorbeikommen?«, fragte sie, während ihre langen Beine sie über das Pflaster dem Hafen entgegentrugen.
»Wie imposant willst du’s denn heute haben?«
»Möglichst unauffällig. Ich habe nur keine Lust, mit den Wachen unnötig Zeit zu vertrödeln.«
Sesa Mina seufzte enttäuscht. »Also gut. Ich habe da eine Idee, aber dazu muss ich mich ein wenig umsehen. Geh schon einmal zum Liegeplatz der Patrone und warte dort auf mich. Es könnte sein, dass wir ziemlich überstürzt aufbrechen müssen.«
Inzwischen waren Stellas Kopfschmerzen verflogen. Sie fühlte sich ausgeschlafen und erfrischt. Daher ertrug sie Sesa Minas Kommandoton mit Fassung. Das Frettchen verschwand so schnell und unauffällig, dass Stella nicht einmal sagen konnte, wohin es entwischt war. Allein schlug sie den Weg zum Hafen ein.
Während sie mit schnellen Schritten einer abschüssigen Straße folgte, betrachtete sie nachdenklich die vielen großartigen Turmbauten der Stadt. Mit einem Mal zögerte sie. Unvermittelt wuchs ein Gedanke aus dem Grund ihres Bewusstseins empor, der sie im ersten Augenblick erschreckte: Es gab noch eine andere Welt neben diesem farbenprächtigen Illusion und in dieser eine zweite Stella, die mit ihr verbunden war, ja, der sie ihr eigentliches Dasein verdankte.
Nicht alles war deutlich auszumachen, was ihr die Erinnerung da so unerwartet preisgegeben hatte, aber das, was Stella »erblickte«, verblüffte sie. Einen Moment lang blieb sie sogar stehen, um herauszufinden, weshalb ihr gerade beim Anblick der hohen Türme diese Einsicht gekommen war. Lag es an der Silhouette der Bauwerke vor dem Himmel? Für kurze Zeit hatte sie einen hohen Zaun darin gesehen, wie die Umfriedung eines Areals, in dem sie gefangen war.
Für den Rest des Weges zum Hafen betrachtete Stella ihre
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