Das Netz der Schattenspiele
Freundin ein. »Jetzt spann mich nicht auf die Folter, Elektra. Was bedeutet der Text?«
»Das meiste davon ist Müll…«
»Wie bitte?«
»Ganz ruhig, Schnuppe. Ich sagte, das meiste. Zwischen all dem Abfall haben wir etwas gefunden, was einen Sinn ergibt, zumindest syntaktisch.«
»Ich verstehe kein Wort. Was habt ihr denn nun entdeckt?«
»Der Kagee -Text enthält einen einzigen verständlichen Satz. Er lautet: ›Wirklichkeiten werden heute gemacht, nicht entdeckt.‹«
»Das ist alles?«
Elektra nickte lächelnd. »Mehr habe ich nicht. Tut mir Leid.«
»Ich bin völlig durcheinander«, gab Stella zu. »Ich hatte gehofft, in dem Manuskript stehe so etwas wie ›Suche den Wurm in der Stadt Soundso in der Höhle mit dem Schild ›Familie Drache‹‹. Aber das… Was soll ich damit anfangen?«
»Es hört sich an wie ein Rätsel. Über Rätsel muss man nachdenken«, bemerkte Lauscher.
Stella erinnerte sich an Lauschers Denkaufgabe über den Herrn des Feldes und stöhnte: »So etwas musste ja kommen. Aber wenn du so klug bist, dann hast du dies doch gewiss auch schon getan, nachgedacht, meine ich.«
»Hab ich tatsächlich. Anscheinend will der Urheber dieses Textes uns etwas über die Wirklichkeit erzählen…«
»Das ist mir auch klar«, sagte Stella deprimiert. »Aber entweder ist etwas wahr und wirklich oder eben falsch und nicht existent. Etwas Reales kann man zwar entdecken, vielleicht auch vollendete Tatsachen schaffen, aber ist das die Art und Weise, in der man Wirklichkeiten macht?«
»Denk an den Intruder, Schnuppe. Schaffst du dir im Augenblick nicht gerade deine eigene Wirklichkeit? Wie hast du sie doch gleich genannt? Illusion, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Du glaubst, der Text sagt etwas über mich und diese Welt hier aus?«
»Nein. Das brächte dich nicht weiter. Es würde dir nichts Neues verraten. Das Rätsel muss eine andere Lösung haben.«
»Überleg doch einmal«, übernahm Elektra wieder das Wort, so als habe Lauscher ihr einen Ball zugeworfen. »Die Zeitungen, die Nachrichten im Fernsehen und Radio… Wie oft ist es schon vorgekommen, dass zu einem Bild oder Ereignis Texte verfasst wurden, welche die Tatsachen in ganz anderem Licht erscheinen ließen! Die Medien pflanzen den Menschen nicht selten Ideen in den Kopf, die diese dann später für ihre eigenen halten. Hier werden Wirklichkeiten gemacht, Schnuppe! Vielleicht künstlich, aber den Menschen erscheinen sie als echt.«
»Moment mal, Moment«, erwiderte Stella verwirrt. »Ich komme da nicht ganz mit. Sprecht ihr beiden von Postillen und den Botschaften, die Herolde verkünden? Haltet ihr das für die künstlichen Wirklichkeiten?«
Elektra musste kichern. »Wenn du es so nennen willst. Offenbar bist du etwas verwirrt, aber Lauscher hat mich ja vorgewarnt.« Die geflügelte Gestalt flirrte dicht zu dem Sofa hin, auf dem Stella Platz genommen hatte, und sagte verbindlich: »Pass auf, Schnuppe. Ich gebe dir jetzt einige Adressen von Orten, wo Wirklichkeiten gemacht werden. Ich weiß, dass du viel schneller und besser dorthin gelangen kannst als Lauscher und ich – vor allem dann, wenn man einen Hintereingang finden muss. Das wird zwar nur selten notwendig sein, aber trotzdem. Sieh dich an diesen Plätzen ein bisschen um. Du hast schon einmal ein Kagee entdeckt. Wenn es in den Wirklichkeitsfabriken irgendwo ein weiteres Schattenwort gibt, dann wird es dir auffallen.«
Stella nickte mit glasigem Blick. Irgendwie fühlte sie sich überfordert von Elektras Vorschlag. Aber dann musste sie wieder an ihren kleinen Pelzkragen denken, der in diesem schwarzen Gebäude immer so auffällig stumm blieb. Sesa Mina würde ihr schon helfen.
Beim Abschied druckste Stella noch ein wenig herum, bis sie gegenüber dem Dunklen Lauscher dann doch die richtigen Worte fand. An diesem Tag sei sie über ihren eigenen Schatten gesprungen, um einem anderen Vertrauen zu schenken. In jedem Fall sei das für sie eine heilsame Erfahrung gewesen – sie hoffe nur, eine positive.
Zuletzt dankte sie ihm für seine Hilfe beim Entschlüsseln des Schattenworttextes und versprach, seine Warnung vor dem Herrn des Feldes ernst zu nehmen.
Elektra wiederum kündigte an, sie werde die Schwarze Sonne nun jeden Tag um die gleiche Zeit aufsuchen. Das sei zwar ein großes Opfer, weil es ihren Nachtschlaf in ungebührlichem Maße verkürze, aber für eine Freundin wolle sie das gerne in Kauf nehmen.
Vom Vertrauen Elektras beflügelt, machte sich Stella sogleich
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