Das Netz der Schattenspiele
auf den Weg. In ihrem Rucksack trug sie mehrere Zettelchen, beschriftet mit den Namen jener Orte, die Elektra ihr genannt hatte. Nun begann das Spiel also von neuem. Ein Schattenwort war gefunden und enträtselt worden, nicht zuletzt mithilfe von Menschen, denen sie früher misstraut hatte. Was würde sie an den Plätzen erwarten, die sie nun ansteuerte? So viel stand fest: Der Lindwurm spielte sein eigenes Spiel und die Herren von Enesa ebenso. Irgendwo dazwischen befand sich Stella und jagte der Erfüllung eines geheimnisvollen, gefährlichen und vielleicht sogar unerfüllbaren Auftrags nach.
DIE WIRKLICHKEITSMACHER
Emesen-Beecee war ein Gemeinwesen weltoffen wie Amon, klein wie Amico und vergeistigt wie Blaxxun. Ohne Schwierigkeiten konnte Stella ihre Patrone an den Kontrolleuren vorbeilenken und im Hafen einen Liegeplatz ansteuern. Als sie die Straßen von Emesen-Beecee betrat, wurde ihr schnell klar, dass hier nicht das Handwerk den Rhythmus des Tages bestimmte, sondern die Nachrichten.
Überall gab es Stuben, in denen Leute saßen, die sich mit anderen Leuten unterhielten. Die einen schrieben die Neuigkeiten auf, welche die anderen aus den entlegensten Winkeln Illusions zusammengetragen hatten. Nicht selten waren die Türen zur Straße hin geöffnet und Stella schnappte hier und da Wortfetzen auf. Einer erzählte zum Beispiel von einem Mann, der mit Vorliebe arglosen Hunden nachstellte, um ihnen in den Schwanz zu beißen. Aus einer anderen »Nachrichtenbörse« schwappte die Neuigkeit, ein Stern sei vom Himmel gefallen, mitten auf eine Stadt, man habe nur noch nicht ihren Namen herausgefunden. Es war nicht zu überhören, dass einige der Berichterstatter ziemlich dick auftrugen – vielleicht wurden sie danach bezahlt, wie aufregend ihre Geschichte klang. Da Stella die eine oder andere Nachricht bekannt vorkam, konnte sie zumindest ahnen, wie viel hier geflunkert wurde.
War das die Wirklichkeitsfabrik, von der Elektra gesprochen hatte? Obwohl Emesen-Beecee für sie bisher nicht mehr als ein Name unter vielen gewesen war, wusste sie zumindest von dem Hauptexportgut dieser Stadt. Es waren Gazetten und so genannte Blitznachrichten, die durch Lichtzeichen zwischen nahe gelegenen Relaisstationen hin und her übertragen werden konnten. Dieses auf einem raffinierten Spiegelsystem beruhende Verfahren ermöglichte die Übermittlung wichtiger Neuigkeiten ebenso wie persönlicher Botschaften über weite Strecken und in allerkürzester Zeit. Die bevorzugten Empfangsstationen für derlei Mitteilungen waren die Spitzen der großen Türme, die es in fast jedem Ort Illusions gab.
»Hast du eine Idee, wo wir hier nach dem Schattenwort suchen sollen?«, fragte Stella, nachdem sie eine Weile mehr oder weniger ziellos durch die Straßen und Gassen geschlendert war.
»Wie wär’s mit dem Zentralen Botendienst? Die ordnen und verteilen sämtliche Nachrichten, die in den einzelnen Stuben der Stadt gesammelt werden.«
Stella blieb so abrupt stehen, dass ein an der Hauswand lümmelnder Laufbursche interessiert die Ohren spitzte. Sie warf dem Jungen einen finsteren Blick zu und flüsterte: »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
»Du hast mich nicht danach gefragt.«
»Aber…« Stella schnappte nach Luft. Doch dann fiel ihr ein, dass Sesa Mina, so verblüffend ihre Spürnase auch war, immer erst in Aktion trat, wenn sie dazu aufgefordert wurde. In – den Umständen entsprechend – freundlichem Ton bat sie das Frettchen: »Wärst du bitte so liebenswürdig und bringst mich zu diesem Zentralen Botendienst? Und wenn es dir nicht allzu viel ausmacht: Könntest du dich auch gleich einmal nach dem Schattenwort umsehen?«
»Nichts lieber als das«, flötete Sesa Mina und dirigierte sie von nun an zielstrebig durch die Straßen der Stadt.
Auf dem Weg zum Botendienst kramte Stella in ihrem Gedächtnis. Zwar war der dunkle Vorhang, der die andere Hälfte ihres Bewusstseins so lange in Finsternis gehüllt hatte, nun verschwunden, aber immer noch gab es da einen zarten Schleier, der einiges aus der Welt hinter ihrer Welt nur verschwommen erkennen ließ.
Soweit Stella sich erinnerte, arbeiteten die Botendienste nach vorbereiteten Verteilerlisten. Die Städte Illusions wurden also nicht wahllos mit Neuigkeiten bombardiert. Vielmehr konnten Behörden, Stände und auch Einzelpersonen gewissermaßen Wunschlisten einreichen. Wenn jemand sich bevorzugt für Borstenvieh-Schlankheitsdiäten interessierte, dann wurde das
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