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Das Netz der Schattenspiele

Titel: Das Netz der Schattenspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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war das anders. Obwohl sie ihn ja erst seit wenigen Minuten, vielleicht auch Stunden kannte – Zeit spielte für sie im Augenblick überhaupt keine Rolle –, erschien er ihr so real, so lebendig, dass es ihr wie ein Fall von Tierquälerei vorgekommen wäre, den PC einfach auszuschalten. Was würde dann mit dem Lindwurm geschehen?
    Draggy war ein sehr lernbegieriges Wesen – den Begriff »Tier« hielt Stella eigentlich für unpassend. Er konnte nicht nur so simple Sätze von sich geben wie »Ich habe Hunger« oder »Ich will spielen« – die Norns in dem Spiel Creatures befleißigten sich dieses rudimentären Wortschatzes. Es hatte wirklich den Anschein, als wollte sich der kleine Drache mit ihr unterhalten, seine Gefühle ausdrücken.
    Natürlich war Draggy hungrig und Stella sah sich unversehens mit der Aufgabe konfrontiert, für ihren Lindwurm etwas Passendes zum Fressen zu finden. Glücklicherweise war dies noch die leichteste Übung. Sie erinnerte sich an die Pflanzen aus dem Quellbecken. Mit lockenden Rufen führte sie den Jungdrachen dorthin und pflückte ein saftiges Büschel. Kaum hatte sie ihm die glitschigen Stiele vor die Nase gehalten, begann Draggy auch schon wie ein Kaninchen loszumümmeln. Bald war kaum mehr etwas von den Halmen übrig.
    Während Draggy sich seinem Grünzeug widmete, bombardierte Stella ihn mit immer neuen Wörtern. Sie zeigte auf einen Felsbrocken und sagte: »Stein.« Sie rupfte ein weiteres Büschel aus dem Quellwasser und sagte: »Hier, Seegras. Hmmm, Seegras schmeckt gut.« Draggy wiederholte gehorsam das Gehörte und begann schon bald daraus eigene Sätze zu bilden.
    »Draggy möchte mehr Seegras. Das Seegras schmeckt guuut!«
    »Du bist ein richtig süßer Kerl«, lobte Stella ihren gelehrigen Lindwurm. Dann kam ihr plötzlich eine Idee. Vor vielen Jahren hatte sie von ihrer Mutter eine »Geheimsprache« gelernt. Es war kurz nach der Zeit gewesen, als die Kalders aus den Vereinigten Staaten nach Berlin gezogen waren. Vivianes Eltern stammten aus Deutschland und sie sprach ebenso perfekt deutsch, wie Stella das Englische beherrschte. Aber Viviane kam mit dem Berliner Dialekt nicht zurecht. Während sie ihrer damals erst siebenjährigen Tochter die »Geheimsprache« beibrachte, lehrte Stella der Mutter im Austausch dafür, wie man sich in Berlin verständlich machen konnte. Aus beiden »Dialekten« entwickelte sich dann ein für Uneingeweihte so gut wie unverständliches Kauderwelsch. »Ickhicklefick weesheeslefees ochhochlefoch nichhichlefich«, bedeutete auf Hochdeutsch »Ich weiß auch nicht«. Oder: »Kannst-hannstlefannst dehelefe mirhirlefir malhalefal dehelefe Stullhul-lefull-lehelefe jehelefe-benhenlefen?« war für einen Normalsterblichen kaum noch als »Kannst du mir einmal das belegte Brot geben?« zu erkennen.
    Draggy hatte keine Schwierigkeiten mit der neuen Sprache. Die Zeit verging wie im Flug, bald schon konnte sich Stella mit ihm recht gut unterhalten. Natürlich war Draggys Sprachvermögen noch nicht so ausgereift wie das eines größeren Kindes, geschweige denn eines Erwachsenen, aber schließlich hatte der Kleine ja auch erst vor wenigen Stunden das Dämmerlicht seiner Welt erblickt.
    »Stella? Mit wem sprichst du denn da?«
    Das Klopfen an Stellas Tür kam völlig überraschend. Sie riss sich die VR-Brille vom Gesicht und war für einige Augenblicke ganz benommen.
    »Ich… ich sitze nur am Computer«, rief sie zurück, darum bemüht, einen ärgerlichen Ton in ihre Stimme zu legen. Vielleicht konnte das Salomon von weiteren neugierigen Fragen abhalten.
    »Es ist bald Mitternacht, Sternchen. Du solltest langsam ans Schlafen denken.«
    Stella biss sich auf die Unterlippe und verkniff sich eine schnippische Bemerkung. Eher versöhnlich entgegnete sie: »Ich mach gleich Schluss. Gute Nacht, Salomon.«
    Für eine Weile herrschte Schweigen hinter der Tür. Offenbar arbeitete es in Salomons Kopf. Wollte er noch etwas sagen? Stella kannte sein ganzes Repertoire: halbherzige Ermahnungen, nicht zu viel Zeit mit Computerspielen zuzubringen; unglaubwürdige Entschuldigungen, weil er sie wieder einmal vergessen hatte; ungeschickte Versuche, ihre Laune durch Scherze aufzubessern, über die wohl nur ein biometrisch orientierter Neuronal-Informatiker lachen konnte. Doch nichts von alldem, nur ein trauriges: »Also dann gute Nacht, Sternchen. Ich hab dich lieb!«
    Schritte entfernten sich den Flur entlang. Das Knarren der Treppe verriet, dass Salomon noch einmal ins

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