Das Netz der Schattenspiele
Erdgeschoss hinunterging. Bestimmt würde er wieder bis drei Uhr morgens vor seiner Workstation sitzen.
Stella war die Lust vergangen, noch einmal die VR-Brille aufzusetzen. Ich hab dich lieb! Wann hatte ihr Vater das zum letzten Mal gesagt? Es musste schon eine Ewigkeit her sein. Sie fühlte sich mit einem Mal schrecklich elend, hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Salomon mit dem Kagee- Spiel hintergangen und ihn am Nachmittag so getäuscht hatte.
Sie hob den Hörer des Telefons ab, das neben ihrem Bildschirm stand. Der Apparat ließ sich innerhalb des Hauses auch als Gegensprechanlage benutzen. Wenn sie jetzt ihren Vater im Chaos anrief und ihm nur ein paar versöhnliche Worte sagte, dann würde er seinen Frust vielleicht nicht, wie sonst immer, in der Arbeit ersticken und noch ein paar Stunden Schlaf finden.
Stella ließ den Hörer zurück auf die Gabel sinken. Sie brachte es einfach nicht fertig, die zweistellige Nummer zu wählen. Es war ihr nicht einmal klar, warum sie nicht offen mit Salomon sprechen konnte. War es Scham wegen ihres falschen Spiels mit ihm? Oder hatte sie einfach verlernt ihre Gefühle zu zeigen, aus Angst erneut enttäuscht zu werden?
Missgelaunt zog Stella ihre blauen Röhrenjeans aus und warf sie über den Schreibtischstuhl. Es folgten das T-Shirt mit dem Majonäsefleck und die weißen Tennissocken. Sie streifte sich ein anderes fast knielanges Shirt über und schlüpfte unter die Bettdecke.
Zuletzt löschte sie das Licht. Nur ihren PC schaltete sie nicht aus. Vielleicht war ja Draggy noch munter und wollte seine Welt eine Weile ohne sie erkunden.
Obwohl Stella nicht glaubte, bei dem heftigen Seegang ihrer Gefühle einschlafen zu können, lullte sie das leise Summen des Computers doch bald ein. Im Traum flog sie auf dem Rücken eines Drachens über eine Felslandschaft, durchzogen von gewaltigen Schluchten und reißenden Flüssen.
Ein leises Klopfen an der Tür weckte Stella.
»Sternchen, aufstehen! In einer Dreiviertelstunde fängt die Schule an.«
Stöhnend drehte sie sich auf die andere Seite.
»Komm schon«, drängte Salomon. »Das Frühstück steht auf dem Tisch. Ich fahr dich dann auch, damit du nicht zu spät zum Unterricht kommst.«
Stella griff nach dem Kissen und vergrub ihren Kopf darunter. Warum glaubten Eltern nur immer, sie könnten ihre Kinder mit der Schule aus dem Bett locken? Es dauerte eine Weile, bis sie aus den Tiefen des Schlafs in die Wirklichkeit zurückfand. Und schon waren die Erinnerungen des vergangenen Tages wieder da. Ihr wurde klar, dass Salomon es ja nur gut mit ihr meinte. Er hatte gestern Abend etwas gesagt, was sie nicht so einfach ignorieren konnte. Es war mehr als ein Friedensangebot gewesen.
Schwerfällig schwang Stella die Beine aus dem Bett. Auf dem Weg zum Bad warf sie noch einen Seitenblick auf den summenden PC. Sie hätte zu gerne gewusst, was aus Draggy geworden war. Vielleicht hatte er ja längst das Zeitliche gesegnet wie diese kurzlebigen Norns, die kaum fünfzehn Stunden, nachdem sie dem Ei entschlüpft waren, ihr Dasein schon gegen einen sinnreich beschrifteten Grabstein tauschen mussten. Seufzend trat sie in den Flur hinaus und drehte hinter sich den Zimmerschlüssel um.
Der Blick in den Spiegel war an diesem Morgen einigermaßen ermutigend. Die Truppen von General Akne hatten sich bis auf einen einzigen Unterhändler zurückgezogen. Stella war nicht gewillt, sich auf Friedensverhandlungen einzulassen und griff zu den Hautreinigungspads.
Wenig später betrat sie das Esszimmer. »Hallo, Paps, entschuldige, dass ich so lange geschlafen habe.«
Ihr Vater sah sie verblüfft an. »Geht’s dir gut, Sternchen?«
»Die Nacht war ein bisschen kurz, aber sonst – «
»Ich muss noch einmal mit dir reden, Stella. Wegen gestern. Es tut mir wirklich Leid…«
»Die Cornflakes sind dir aber heute besonders gut gelungen, Salomon.«
Mark schluckte. Sie wollte ihn nicht an sich heranlassen und er wusste nicht recht, weshalb. War es immer noch wegen gestern? Resignierend erwiderte er: »Es sind dieselben wie jeden Morgen.«
»Nein, sonst sind sie immer viel schwammiger. Du hast die Milch gerade eben erst reingeschüttet, stimmt’s?«
»Meinst du, wir könnten heute Abend… Nein, entschuldige, bevor ich wieder falsche Versprechungen mache – und das möchte ich wirklich nie mehr tun –, morgen Abend… Heute gibt es noch eine Sitzung des Direktoriums, es könnte spät werden. Morgen wollten wir sowieso gemeinsam den Abend
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