Das Netz der Schattenspiele
schwebte. Vielleicht war dieses Wesen scheu. Nein, besser still bleiben und abwarten.
Das nächste Stück Schale brach heraus und klapperte ein paar Meter weiter auf den Höhlenboden. Stella sah nun zwei hellere Punkte in dem Ei. Wie zwei riesige Glühwürmchen glommen sie aus der Finsternis. Ab und zu erloschen sie schlagartig, um sogleich wieder zu erglühen. Die runden, leicht ovalen Punkte schienen direkt auf Stella gerichtet zu sein. Es waren Augen.
Ehe sie noch reagieren konnte, schob sich ein Kopf aus der gezackten Öffnung des Eies. Stella hielt die Luft an. Ein kleiner Drache beäugte sie neugierig. Er quietschte etwas, vielleicht einen Gruß. Das Ganze klang jedenfalls nicht bedrohlich, eher ein wenig klagend. Vermutlich hatte der Kleine Hunger.
Nun sprengte das Küken – oder wie immer man dieses großäugige Jungtier bezeichnen sollte – ein großes Stück der Schale heraus und legte damit mindestens ein Drittel des Eies frei. Ein schuppiger Körper ringelte sich aus der demolierten Brutkammer. Er glänzte, war vorwiegend grün, doch erhob sich auf dem langen Rücken des Wesens ein zackenbewehrter leuchtend roter Kamm. Am ehesten konnte man den Frischling mit einer überlangen Eidechse vergleichen, der ein Paar Fledermausflügel gewachsen waren. Der Kopf wies einige Spitzen und Kanten auf, darunter zwei sehr bewegliche Ohren. Den Schwanz zierte ein herzförmiges Endstück.
»Also, was bist du denn eigentlich?«, fragte Stella leise. Sie sprach mit dem Kleinen wie mit einem scheuen Tier, dessen Zutrauen man erst gewinnen musste. »Für einen Drachen bist zu ziemlich lang«, murmelte sie mehr zu sich selbst. »Aber deine Flügel und die kurzen Beine passen auch nicht zu einer Schlange oder einem Wurm…« Stella stockte. Dank ihrer Studien mittelalterlicher Rittersagen war sie schließlich auf die richtige Antwort gekommen.
»Du bist ein Lindwurm!«, entfuhr es ihr.
Ein freundliches Quietschen, das Neugeborene schien Zustimmung zu signalisieren.
Lindwürmer, erinnerte sich Stella, waren eine besondere Art von Drachen. Auf alten Stichen wurden sie in allen möglichen Varianten dargestellt: einmal mit, einmal ohne Flügel, dann länger oder kürzer, oft Feuer spuckend und fast immer grimmig und zähnefletschend. Vor einem guten Dutzend Jahrhunderten mussten sie die Welt in hellen Scharen unsicher gemacht haben. Deshalb waren Lindwürmer auch das bevorzugte Jagdobjekt von gepanzerten Helden gewesen. Wenn es einem Ritter gelang, derartiges »Ungeziefer« – vorzugsweise mit der Lanze – zu erlegen, dann war ihm ein eigenes Wappen mit abgebildetem Opfer sicher. Diese unschätzbare Ehre hatte dann letztendlich wohl auch zur Ausrottung der schuppigen Tierchen geführt.
Ein Lindwurmei hatten die Kammerjäger des Mittelalters jedoch übersehen. Stella starrte entzückt auf das niedliche Ringelding. »Und was fangen wir nun miteinander an, Draggy?« Der Name für den kleinen Lindwurm war ihr spontan eingefallen. Er hatte so etwas Drachenhaftes an sich, fand Stella.
»Draggy?«, wiederholte der schuppige Kleine unvermittelt.
Stella ließ sich erstaunt in ihren Stuhl zurückfallen. »Du kannst ja sprechen!«
Die Stimme des grünroten Lindwurmes klang hoch, ein wenig knurrig, etwa so, wie man sich eine sprechende Katze vorstellen würde. Auch wenn dergleichen nun wirklich ungewöhnlich genug war, bereitete es der phantasiebegabten Stella doch keine Schwierigkeiten, sich mit der neuen Situation zurechtzufinden.
Sie vermutete ganz richtig, dass Draggy Hunger hatte. Immerhin besaß sie einige Erfahrung mit künstlichen Lebewesen. Auch wenn sie heute nicht mehr gerne daran erinnert wurde, hatte sie einige Wochen lang eine Anzahl von Tamagotchis großgezogen und anschließend in einem eigens dafür eingerichteten Internet-Friedhof beerdigt. Es gab auch noch andere virtuelle Haustiere, da waren zum Beispiel Fin Fin, ein Zwischending aus Delfin und Vogel, und einige koboldartige Norns aus der Welt Albia. Und noch immer bediente sie sich regelmäßig des Programms Roomancer, um die Festplatten ihres PCs – anschaulich dargestellt als Haus mit verschiedenen Räumen – zu durchsuchen. In diesem virtuellen Haushalt lebte der Hund Basset, dem man Fragen stellen konnte, sobald man nicht mehr weiterwusste. Aber Basset war nichts weiter als ein niedlich verpacktes Hilfesystem und auch all die anderen künstlichen »Lebensformen« hatten sie nur für eine sehr begrenzte Zeit in den Bann schlagen können.
Mit Draggy
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