Das Netz der Schattenspiele
hätte.
DRACHENEINMALEINS
Es dauerte etliche Minuten, bis sie sich wieder einigermaßen in der Gewalt hatte. Nach der Begegnung mit ihrem Vater war Stella ziemlich durcheinander gewesen. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie, hatte sie doch selbst diese ganze Episode im Erdgeschoss inszeniert.
Als ihr in der Diele bewusst geworden war, dass es wohl keine Chance mehr gab, den Datenträger mit dem Kagee- Spiel direkt und unbemerkt ins Chaos zurückzubringen, hatte sie sich, einem plötzlichen Einfall folgend, in die Küche zurückgezogen. Um ihren Plan durchzuführen, musste sie ihren Vater für kurze Zeit aus der Diele fortlocken. Zum Glück bot der Grundriss des alten Hauses einige Möglichkeiten zum Versteckspielen.
Während Salomon sich langsam zur Küche vortastete, schlich sich Stella mit ihrem Colaglas durch den Nebenflur in die Diele zurück und von dort ins Chaos. Innerhalb von Sekunden hatte sie die Disk wieder an ihren Platz gesteckt. Gerade als sie das Büro verlassen wollte, war ihr ein Krümel aufgefallen, der mittags von ihrem Teller gerutscht sein musste. Schnell beseitigte sie die verräterische Spur und schlich sich in die Diele zurück. Dort stellte sie sich dann ihrem Vater.
Ein Wort hatte das andere gegeben. Stellas Erregung über Salomons Unzuverlässigkeit war ebenso wenig gespielt gewesen wie ihre Tränen. Immer wieder geriet sie aus der Fassung, wenn es um die chaotische Zeitverplanung ihres Vaters ging.
Doch nun beruhigte sie sich allmählich wieder. Gleichzeitig drang ein Geräusch in ihr Bewusstsein, das sie zuvor nicht bemerkt hatte. Es handelte sich um ein leises Summen, das von dem Lüfter des PCs ausging. Der Computer war eingeschaltet! Beinahe hätte sie das Ei vergessen! Die Erinnerung kehrte mit Vehemenz zurück. Deshalb hatte sie doch diesen ganzen Stress auf sich genommen! Wie viel Zeit mochte inzwischen wohl in der Höhlenwelt des Kagee- Spieles verstrichen sein?
Stella drehte leise den Schlüssel ihrer Zimmertür herum. Sie wollte nicht noch einmal überrascht werden. Wenn Salomon wirklich versuchte unangemeldet hereinzuplatzen, würde die verschlossene Tür für ihn ein unmissverständliches Signal sein: Ich bin sauer auf dich; lass mich in Ruhe.
Nun widmete sich Stella wieder ihrem »Technikpark«, einer Geräteausstattung, von der andere Altersgenossen mit weniger computerversessenen Vätern nur träumen konnten. Sie schlüpfte in den Datenhandschuh und setzte sich den Kopfhörer sowie die VR-Brille auf. Den Monitor ließ sie ausgeschaltet, denn dank ihrer Brille befand sie sich schon mitten in einer fremdartigen Welt.
Stella hielt den Atem an. Die Veränderung war ihr sofort aufgefallen. Zwar ruhte das große graubraune Ei immer noch in der von warmem Wasser umspülten Mulde – aber diesen Sprung hatte es vorher nicht gehabt. Langsam näherte sich Stella dem Ei. Sie lauschte. Zuerst hörte sie nur das leise Gurgeln des Wassers. Doch dann…
Da war ein leises Kratzen. Neugierig untersuchte sie den Sprung, der sich von der Spitze des Eies nach unten erstreckte. Da! Wieder hörte sie ein Geräusch. Diesmal hatte es eher wie ein Schaben geklungen, gefolgt von einem kaum wahrnehmbaren Knacken.
Stellas Herz schlug heftig. Jetzt glaubte sie erneut einen Laut zu vernehmen. War es ein Quietschen gewesen? Oder ein jämmerliches Piepen? Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Plötzlich fuhr sie zusammen.
Völlig unerwartet hatte sich ein weiterer Spalt gebildet, begleitet von einem nun deutlich vernehmbaren Krachen. Unwillkürlich entfernte sich Stella ein paar Schritte von dem Ei, ohne es jedoch auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Immer mehr Risse zeigten sich jetzt in der Schale. Hin und wieder schien das ganze Ei zu vibrieren. Alle möglichen Geräusche erfüllten den Höhlenraum, darunter auch immer häufiger dieses beinahe Mitleid erregende Fiepen. Unwillkürlich rückte Stella wieder näher an die Quelle des Rumorens heran – um sogleich erneut vor Schreck zurückzufahren.
Ein großes dreieckiges Stück der Schale war wie vom Katapult geschleudert aus der Spitze des Eies gesprungen und aus dem Blickfeld gerauscht. Stella wagte nicht sich zu rühren. Angestrengt blickte sie in die Dunkelheit unter der Öffnung. Sie glaubte eine Bewegung zu erkennen, war sich aber nicht sicher.
Stella überlegte, ob sie etwas ins Mikrofon sprechen sollte, das mit dem Kopfhörer verbunden war und an einem Bügel dicht vor ihren Lippen
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