Das Netz der Schattenspiele
verbringen. Lass uns dann in Ruhe über alles sprechen. Einverstanden?«
Stella zermalmte krachend einen Löffel voller Cornflakes. »Mal sehen«, war alles, was sie erwiderte.
In der Schule trieb der Unterricht an ihr vorbei wie herrenloses Strandgut. Sie konnte sich überhaupt nicht konzentrieren. In den ersten zwei Stunden musste sie nur daran denken, wie zickig sie sich ihrem Vater gegenüber verhalten hatte. Dann übernahm Schmeichel das Ruder. Der Geschichtslehrer hielt sich nicht mit langen Vorreden auf, sondern übergab zügig an Tim Schröder.
Das Referat über die chinesische Philosophie war also doch kein Vorwand gewesen, und wenn, dann einer mit realem Hintergrund. Für eine Viertelstunde lauschte Stella tatsächlich den erstaunlich faktenreichen Ausführungen ihres heimlichen Verehrers. Offenbar war Tim im Internet fündig geworden. Schön für ihn. Ehe er seine Ausführungen unter den anerkennenden Blicken eines erstaunten Schmeichels zum Abschluss bringen konnte, waren Stellas Gedanken schon wieder abgedriftet.
Das Kagee beschäftigte sie mehr als jedes andere Spiel, das sie je kennen gelernt hatte. Ob künstliches Leben sich in einem Computer wirklich entwickeln konnte? Vielleicht war ja das die neue bahnbrechende Entdeckung, von der ihr Vater immer schwärmte, wenn er sich in nebulösen Andeutungen über die Zukunft der Familie erging.
Wie auch immer, sie hatte Draggy längst ins Herz geschlossen. Der kleine Lindwurm schien ihre Aufmerksamkeit zu schätzen – im Gegensatz zu Salomon und auch im Unterschied zu ihrer Mutter, die sich seit mehr als einem Vierteljahr nicht mehr zu Hause hatte blicken lassen. Draggy hörte bereitwillig auf sie, auch wenn er nur ein künstliches Wesen war. Er lernte sogar von ihr. Selbst manche ihrer Redewendungen übernahm er wie ein anhänglicher Zögling, für den die Pflegemutter das wichtigste Wesen der Welt darstellt. Sie kam sich fast vor wie dieser Verhaltensforscher Konrad Lorenz, dem seine Gänseküken auch auf Schritt und Tritt gefolgt waren – im Bio-Unterricht hatte sie davon gehört.
Als die Glocke endlich das Ende der letzten Schulstunde signalisierte, eilte Stella schnellstens aus dem Klassenzimmer. Tim hatte keine Chance ihr für die Hilfe vom Vortag zu danken.
Endlich wieder zu Hause, galt ihr erster und einziger Gedanke dem Computer. Der Rucksack mit den Schulsachen war unsanft auf dem Boden gelandet. Die Nikes hatte sie dicht daneben abtropfen lassen. Mit angewinkelten Beinen, die Knie gegen die Schreibtischkante gestützt, saß sie im Bürostuhl und aktivierte ihre elektronischen Gerätschaften.
Da sie einige Stunden nicht mehr am PC gewesen war, hatte sich der PersonSpotter eingeschaltet. Wie so vieles stammte auch dieses Programm von ihrem Vater. Die Zugangssoftware war von Forschern der Ruhr-Universität Bochum entwickelt worden, Salomon hatte die Kollegen nur bei der Konzeption des zugrunde liegenden neuronalen Netzes unterstützt. PersonSpotter arbeitete über eine kleine Videokamera, die unmittelbar auf dem Monitor angebracht war. Das Objektiv erstellte aus dem Gesicht des Benutzers ein Referenzmuster, verglich es mit den Vorlagen in der Datenbank, und ergab sich daraus eine Deckung, wurde der Zugang zum PC freigegeben. Stella schätzte PersonSpotter, weil er sie so nahm, wie sie war. Anders als Vaters SESAM schien es dem Programm gleichgültig, wie viele Eiterpickel ihr Gesicht verunzierten. Er hatte sie noch nie von ihrem Rechner ausgesperrt.
Auf seinen regelmäßigen Überprüfungen des Posteingangs hatte der PC eine neue E-Mail aus dem Internet gefischt. Der Betreff der Nachricht lautete »DANKE« und stammte von Tim Schröder. Stella klickte das Mail-Fenster beiseite und drückte am Bildschirm einen Knopf, auf dem nur ein Wort stand: Kagee.
Ausgestattet mit VR-Handschuh, -Brille und Headset suchte sie nach Draggy. Einige bange Sekunden lang fürchtete sie schon, ihr Drache könne wirklich wie jene Tamagotchis, Fin Fins und Norns im virtuellen Nirwana gelandet sein, aber da kam der Lindwurm auch schon aus einem Höhlengang angeschwirrt wie eine Libelle.
Draggy lebte noch! Er wirkte sogar äußerst munter. Was aber Stella am meisten verwunderte: Er schien sie sogar wieder zu erkennen! Noch war sie nicht ganz in die Welt des Kagee versunken, die Kamera über dem Monitor fiel ihr ein. Salomon musste auch eine Schnittstelle für dieses Gerät im Spiel berücksichtigt haben.
»Wo warst du?«, begrüßte der Drache seine
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