Das Netz der Schattenspiele
peinlich. Da Stella in keiner Weise daran dachte, die Unterhaltung durch eigene Beiträge aufzulockern, drehte sich das Gespräch schließlich fast nur um Verschlüsselungsalgorithmen, Permutationen, S-Boxen und anderes Kryptologenlatein, von dem sie nicht einmal die Hälfte verstand. Als ihr Vater dann zwischendurch auf die Toilette ging, geriet Stella in eine Zwickmühle: Jessica Pollock wandte sich direkt an sie.
»Du glaubst, dein Vater und ich haben irgendwas miteinander, stimmt’s?«
Stellas Lungen verkrampften sich. Sie konnte mit einem Mal nicht mehr richtig atmen. War sie wirklich so leicht zu durchschauen?
Jessica lachte. »Ich kann dich gut verstehen, Stella. Dein Vater hat wirklich viele Fans an der Uni. Ich gehöre tatsächlich auch dazu.«
Also doch!, dachte Stella.
»Aber nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst«, fuhr Jessica gleich fort. »Salomon ist der fähigste Wissenschaftler, dem ich je begegnet bin. Und er hat mir eine wirklich große Chance gegeben. Ich bin ihm dankbar und ich finde ihn total nett. Hin und wieder sprechen wir sogar über private Dinge. Aber, du musst mir glauben, das ist wirklich alles. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Das ist leicht gesagt, aber woher soll ich wissen, dass es auch stimmt?«, schnappte Stella wie ein in die Enge getriebener Hund.
»Ich glaube, dein abweisendes Verhalten hat eine ganz andere Ursache.«
Stellas Augen verengten sich. Was kam denn jetzt?
Jessica lieferte die Antwort postwendend. »Du vermisst deine Mutter. Außerdem scheint es zwischen deinen Eltern zu kriseln. Du spürst das, obwohl du es nicht wahrhaben willst. Es fällt dir schwer, mit deinem Vater darüber zu sprechen, weil ihr das Miteinanderreden verlernt habt. Er war zu lange mit anderen Dingen beschäftigt.«
Stella hatte immer noch das Gefühl, sich wehren zu müssen. »Ich wusste gar nicht, dass Kryptoanalytiker sich auch so gut in der menschlichen Psyche auskennen. Du solltest vielleicht dein Fachgebiet wechseln.«
Jessica lächelte milde und versuchte Stella die Hand auf den Arm zu legen. Als diese jedoch zurückzuckte, sagte sie nur: »Als Psychoanalytikerin wäre ich eine Niete. Nein, der Fall liegt eigentlich ganz einfach, Stella. Ich war mal in einer ganz ähnlichen Situation wie du. Meine Mutter ist schon gestorben, als Olli – mein Bruder – und ich noch sehr klein waren. Wir haben sie trotzdem immer vermisst. Und unser Vater war jahrelang vor Trauer kaum ansprechbar. Daher konnten wir nur selten unsere Probleme bei ihm abladen.«
»Du erzählst das alles, als würde es dich heute nicht mehr stören«, sagte Stella, schon etwas weniger feindselig als zuvor.
Jessica schüttelte den Kopf. »Es hat sich viel geändert seit damals. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich dir vielleicht ein andermal erzählen werde. Mein Vater hat jedenfalls wieder geheiratet und Miriam, seine neue Frau, ist meine beste Freundin geworden. Das hat viele Wunden geheilt.«
»Es gibt also doch noch Happyends im Leben.«
»Du bist jetzt verwirrt, vielleicht auch verbittert, Stella. Aber ich sag’s noch einmal: Ich kann dich gut verstehen. Wenn du dich irgendwann aussprechen willst, so von Frau zu Frau, dann ruf mich einfach an. Wir können uns auch gerne treffen.« Jessica beugte sich verschwörerisch vor und flüsterte: »Sollte dir ein Gespräch IRL – du weißt schon: in real life – nicht behagen, dann können wir uns auch in einer anonymeren Umgebung treffen. Du findest mich fast jeden Abend zwischen zehn und elf in einem Chat. Ist dir das ein Begriff?«
»Hast du vergessen, dass ich Salomons Tochter bin? Ich war schon Stammgast in diesen virtuellen Plauderstuben, als meine Schulfreundinnen noch mit ihren Barbiepuppen spielten.«
»Entschuldige. Hätt ich mir denken können.« Jessica zog einen Block aus ihrer Collegemappe, kritzelte eine Internet-Adresse darauf und schob sie Stella zu. »Hier kannst du mich treffen, falls dir mal danach ist.«
»In letzter Zeit treibe ich mich nur noch selten in Chat Rooms herum«, erwiderte Stella zögernd, steckte den Zettel aber trotzdem ein. »Ist zu viel hohles Zeug, was da gequatscht wird. Außerdem wird man ständig angemacht, wenn man mit einem weiblichen Nick auftaucht.«
Jessica grinste. »Jeder ist in einem Chat, wer oder was er sein will. Die anderen bekommen ja nur dein Geplauder und deinen Spitznamen mit. Such dir einfach einen anderen Nick Name. Nenn dich Lancelot oder Merlin – ich habe gehört, du hast eine
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