Das Netz der Schattenspiele
Unterarmen zu ihr vor und sprach zum ersten Mal seit unerdenklich langer Zeit offen über seine innersten Gefühle.
Stella lauschte scheu den Worten ihres Vaters. Natürlich könne es ihr nicht entgangen sein, dass es schon seit mehr als einem Jahr immer häufiger Streit zwischen Viviane und ihm gegeben habe, sagte er. Stellas Mutter habe es einfach nicht mehr länger akzeptiert, dass er sich für seine Arbeit aufopferte und dabei seine Familie vernachlässigte.
Mark hatte ihr versprochen, die Situation zu ändern, gesagt, er wolle aus dem Lehrbetrieb aussteigen und ein eigenes Softwareunternehmen gründen, klein und übersichtlich, vielleicht sogar nur eine Ein-Mann-Firma, die er von zu Hause aus leiten könne. »Dann tu’s doch!«, habe Viviane zornig erwidert. Das ginge nicht von heute auf morgen. Doch davon habe sie nichts wissen wollen. Er versuche nur Zeit zu gewinnen. Er müsse sich entscheiden: entweder seine Arbeit oder die Familie.
Dann war Großvater gestorben. Stella kannte den Fortgang der Geschichte nur allzu gut. Aufgrund einer schleichenden Krankheit war Großvaters Tod schon seit längerem abzusehen gewesen, aber trotzdem hatte die Nachricht sie zunächst schwer getroffen, fast so wie damals, als es mit Großmutter zu Ende gegangen war. Die Worte Oma und Opa hatten für sie gleichwohl von jeher einen fast exotischen Klang besessen, weil die seltenen Besuche in Branford ihr nie Gelegenheit gegeben hatten, ein wirklich tiefes Verhältnis zu Vivianes Eltern zu entwickeln. Deshalb war die Wunde in ihrer Seele nach Großvaters Ableben auch nicht so tief und heute, mehr als ein Vierteljahr später, schon fast vernarbt. Salomon ging es sicher ähnlich, jedenfalls zeigte er in dieser Sache nie tiefer gehende Gefühle.
Gemeinsam war die Familie zur Beisetzung nach Connecticut geflogen, aber Viviane nicht wieder mit nach Berlin zurückgekehrt. Als einzige noch lebende Angehörige wolle sie die Regelung des Nachlasses nicht einfach einem Anwalt übergeben, lautete ihre Begründung. Außerdem sei sie sich noch nicht klar darüber, ob sie ihr Elternhaus in Branford veräußern wolle.
»Sie hat’s immer noch nicht verkauft. Sie wohnt in Großvaters Haus und denkt gar nicht daran zurückzukommen.« Endlich fand Stella den Mut auszusprechen, was sie lange schon innerlich bewegte.
Ihr Vater wiegte den Kopf hin und her. »Daran denken tut sie schon, aber sie hat sich noch nicht entschieden. Am Telefon sagte sie mir neulich, sie brauche etwas Zeit, um mit sich selbst ins Reine zu kommen.«
»Heißt das, Mutter könnte vielleicht für immer in den USA bleiben?«
»Ich habe ihr gesagt, mit Ende des Sommersemesters würde alles anders werden, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie mir glaubt.«
»Sie hat allen Grund, misstrauisch zu sein.«
Mark sah seiner Tochter direkt in die Augen. »Wolltest du nicht eben sagen, du hast jeden Grund, der Welt und vor allem mir zu misstrauen?«
Stella wich dem Blick ihres Vaters aus und fixierte die unruhig flackernde Kerzenflamme. »Ist das nicht dasselbe?«
Mark dachte lange nach, bevor er antwortete. »Vielleicht hast du Recht, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall verdient eine Tochter mehr Aufmerksamkeit von ihrem Vater, als ich dir bisher gegeben habe, und eine Frau mehr Beachtung von ihrem Mann, als deine Mutter von mir bekommen hat. Leider ist mir das ein bisschen spät bewusst geworden. Fast zu spät, fürchte ich.«
»Dann ist es dir also wirklich ernst mit deiner Softwarefirma?«
»Ja doch, Sternchen! Die Pläne stehen, und die Produkte, die ich anbieten möchte, sind so gut wie fertig.«
»Wenn du über das alles früher schon offener gesprochen hättest, würde es Viviane und mir vielleicht leichter fallen, es auch zu glauben.«
Mark nickte und ließ den Kopf hängen. Auch das wisse er mittlerweile. Und dann erzählte er Stella zum ersten Mal die Geschichte vom Bundesnachrichtendienst. Er hätte damals sicherlich überreagiert, denn bis heute sei der BND nicht mehr an ihn herangetreten, aber je klarer er erkannte, wie bahnbrechend sein SKULL-System war und welchen Schaden es in den falschen Händen anrichten konnte, desto mehr habe er sich mit seiner Arbeit abgekapselt.
Für Stella kam diese Eröffnung wie ein Paukenschlag nach einem langen Pianissimo. Das alles klang so sehr nach einer wilden Agentengeschichte, dass es ihr schwer fiel, das Geständnis ihres Vaters für bare Münze zu nehmen. Doch sein zerknirschter Gesichtsausdruck, wo er sonst immer vor
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