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Das Netz der Schattenspiele

Titel: Das Netz der Schattenspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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waren ihr praktisch auf den Leib gewachsen. Sie zog das inzwischen arg ramponierte Blatt heraus und las Jessicas Notiz: http://www.blaxxun.com.
    »Wäre nie auf die Idee gekommen, dass das ›Black Sun‹ heißen soll.«
    »Du musst es nur laut vor dich hinsprechen, dann wird’s verständlich.«
    »Gibt es irgendeinen tieferen Grund für diesen Server-Namen?«
    »Sicher. Vermutlich hast du Neal Stephensons Buch Snow Crash noch nicht gelesen?«
    Stella hob die Schultern. »Sagt mir nichts.«
    »Darin wird eine virtuelle Welt mit dem Namen Metaversum beschrieben. In deren Zentrum steht ein Gebäude namens Black Sun. Stephensons Roman ist inzwischen zum Kultbuch avanciert. Ein paar computerbegeisterte Kalifornier hat es wohl so beeindruckt, dass sie gleich ihre ganze Softwarefirma, eben Blaxxun, danach benannten. Du musst dir nur vom Blaxxun-Server das Programm Ccpro herunterladen. Damit kannst du dann eine erstaunlich realistische Adaption des Roman-Szenarios auf deinen PC zaubern – vorausgesetzt, er verfügt über genügend Power.«
    »Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« Stella lachte großtuerisch. »Vater hat meinen Rechner als Notfall-System für seine Workstations ausgelegt. Den PC zwingt so schnell kein Programm in die Knie!«
    »Dann schau doch mal bei Blaxxun vorbei.«
    Erst jetzt fiel Stella auf, dass Jessica sie schon wieder aus der Reserve gelockt hatte. Eher knapp antwortete sie daher: »Mal sehen, vielleicht.«
    Eine Zeit lang schwiegen beide. Jessica betrachtete neugierig den PC und vor allem das dazugehörige Equipment: den Datenhandschuh, die VR-Brille, das Headset, die Kamera über dem Monitor…
    »So einen Hobel hätte ich mir schon vor ein paar Jahren gewünscht!«, sagte sie bewundernd. »Meine Rechner sind alle Marke Eigenbau. Die Komponenten habe ich teils geschenkt, manchmal als Lohn für kleine Hilfestellungen bekommen und sie hin und wieder auch mit Preisgeldern bezahlt.«
    »Mit Preisgeldern?«
    Jessica zuckte die Schultern. »So wie von ›Jugend forscht‹ oder ähnlichen Wettbewerben eben.«
    »Du musst wirklich ein helles Köpfchen sein, Jessi!« Stella lachte, zum ersten Mal an diesem Abend völlig ungezwungen. Die Studentin zog sie unmerklich in ihren Bann.
    Freundschaften waren für Stella eine echte Mangelware. Als Tochter eines erfolgreichen TU-Professors und einer nicht minder erfolgreichen freien Journalistin hatte sie immer alles haben können, was sie wollte. Nur mit Freunden haperte es. Die alten hatte sie schon vor vielen Jahren zurücklassen müssen, als ihre Eltern nach Berlin umzogen. In der neuen, ungewohnten Umgebung fühlte sie sich anfangs wie ein Fremdkörper. Als sich dann doch einige Kinder um ihre Gunst bewarben, erlebte sie ein paar herbe Enttäuschungen. Viele ihrer Altersgenossen waren mehr an Stellas ausgefallenen »Spielsachen« interessiert als an ihr selbst. Das schürte ebenso ihr Misstrauen wie die zahlreichen Rückschläge, die sie später hatte hinnehmen müssen, als es in der Ehe ihrer Eltern zu kriseln begann. Inzwischen fand sie es ganz normal, sich abzukapseln, einem Fremden unbefangen gegenüberzutreten dagegen so gut wie unmöglich.
    Jessica erzählte von ihrer eigenen Kindheit, ihrem Zwillingsbruder Oliver, dem verträumten Künstler, von der schon lange verstorbenen Mutter. Als Stella erfuhr, dass Jessicas Vater Direktor des Vorderasiatischen Museums war und daher ebenfalls einen Professorentitel trug, riss das eine weitere Mauer nieder. Diese Studentin hatte es nicht nötig, sich bei ihr einzuschmeicheln.
    Zuletzt erzählte Jessica Pollock von ihrer für ein Mädchen eher ungewöhnlichen Vorliebe für die Kryptologie. Schon als kleines Kind habe sie sich selbst Geheimsprachen ausgedacht, einmal sogar für geraume Zeit die Verständigung in normalem Deutsch völlig eingestellt und sich nur noch in ihrem eigenen Idiom ausgedrückt.
    »Ich habe auch so eine Geheimsprache!«, warf Stella verblüfft ein und lieferte gleich ein paar Kostproben ihres Kauderwelschs.
    Jessica durchschaute sofort das System dahinter, aber anstatt nun mit ihrer eigenen, viel komplizierteren Geheimsprache zu prahlen, begann sie sofort die beiden Ansätze miteinander zu verbinden.
    Alsbald setzten die Mädchen ihre Unterhaltung in einem Zungenschlag fort, der jedem uneingeweihten Zuhörer nur ein Kopfschütteln abgenötigt hätte. Ausgehend vom Berliner Dialekt bedienten sie sich eines weiterentwickelten Wortschatzes, der wie eine Mischung aus verschiedenen

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