Das Netz der Schattenspiele
seiner Heimat den Rücken zu kehren. Wenig später bestieg er mit Frau und Kind ein Passagierschiff nach New York. In den Vereinigten Staaten setzte Karl Kessler, Vivianes Vater, seine Karriere fort. Nach Kriegsende habilitierte er sich sogar als Professor für internationales Wirtschaftsrecht an der angesehenen Yale University in New Heaven, Connecticut.
Viviane wuchs zweisprachig auf – deutsch und englisch –, genauso wie später dann ihre Tochter. Stellas Eltern hatten sich in Berkeley kennen gelernt. Mark war damals ein viel versprechender deutscher Doktorand gewesen, der schon zwei Semester am MIT in Boston absolviert hatte. Viviane verfolgte mit ihrem Studium das Ziel, den Journalismus zu bereichern. Noch bevor sie ihre Ausbildung abschloss und Mark seine Doktorwürde erwarb, heirateten die beiden.
Bald danach wurde Stella geboren. Sechs Jahre lang lebte sie in Kalifornien und hatte Spielgefährten aller Hautfarben. Regelmäßig besuchte sie ihre Großeltern in Connecticut. Sie war ein glückliches kleines Mädchen wie Tausende andere auch. Dann ließ sich die Entscheidung nicht mehr länger hinausschieben, welche Schule sie wo besuchen sollte. Mark – inzwischen mit einem Doktortitel dekoriert und durch diverse Aufsätze in Fachmagazinen sowie einer Reihe anderer Publikationen ein international beachteter Wissenschaftler – hatte zu dieser Zeit ein verlockendes Angebot aus Berlin, seiner Heimatstadt, erhalten. Kein Geringerer als Prof. Dr. rer. nat. Klaus Obermayer, Leiter des Fachgebiets für Neuronale Informationsverarbeitung am Institut für Kommunikations- und Informationstechnik der TU Berlin, legte alles daran, um den viel gerühmten Jungwissenschaftler aus Berkeley fortzulocken.
Viviane, Stellas Mutter, schrieb inzwischen als freie Journalistin für Vogue, Cosmopolitan, Marie Claire und andere angesehene Frauenmagazine. Sie war mit ihrer Arbeit nicht an Kalifornien gebunden, ja, ein »neuer Stützpunkt« in Europa wurde von den Verlagen sogar begrüßt, und so willigte sie in den Umzug nach Berlin ein.
Obwohl es für Stella keine sprachlichen Anpassungsschwierigkeiten gab, fiel ihr der Wechsel vom vertrauten und unkomplizierten Kalifornien in das oft starr und regelversessen anmutende Deutschland nicht leicht. Tatsächlich begann damals schon – für das kleine Mädchen eher unbewusst – Stellas Abkapselung gegen die Umwelt. Meistens spielte sie allein. Sie schloss wenige Freundschaften und selbst diese waren stets nur oberflächlicher Natur.
So wurde aus Stella Kalder ein unscheinbares Mädchen, das eigentlich nur dann auffiel, wenn es sich überraschend zu Wort meldete. Das tat sie bevorzugt im EDV-Unterricht – sie neigte dazu, die kleinen Schwächen und Ungenauigkeiten des Lehrers vor der ganzen Klasse ins grelle Licht ihrer Kritik zu stellen –, und mit schöner Regelmäßigkeit, wenn sie sich mit Frau Schock über die Feinheiten der englischen Sprache auseinander setzte.
Frau Schock war, wie unschwer zu erraten, Stellas Englischlehrerin. Sie kämpfte verbissen für das staatlich verordnete Oxford-Englisch. Stella dagegen bezog eine eher liberale Position: Mal strapazierte sie die Nerven ihrer Lehrerin mit Ausdrücken, die nur einem Kalifornier geläufig waren, dann wieder konfrontierte sie Frau Schock mit ihrem unüberhörbaren Neu-England-Dialekt.
Dennoch war Hildegard Schock eine viel zu gute Pädagogin, um sich von derlei Sticheleien aus dem Konzept bringen zu lassen. Sie kannte Stellas Lebenslauf und war sich über deren eher labile Gemütslage im Klaren. Irgendwie schaffte sie es jedes Mal, das verschlossene Kalder-Mädchen wieder auf Kurs zu bringen. Auf den Halbjahreszeugnissen konnte man es schwarz auf weiß nachlesen, denn Englisch war das einzige Fach, in dem Stella immer eine Eins bekam.
Von dem Tage an, da sich Draggy auf so widerliche Art und Weise aus dem Staub gemacht hatte, dauerte es zwei Wochen, bis Stella wieder einigermaßen Tritt im Alltagsleben gefasst hatte.
Mark kämpfte in dieser Zeit hartnäckig um das Vertrauen seiner Tochter. Und Stella konnte sich seinen Bemühungen nicht ganz verschließen. Tatsächlich lernte sie allmählich wieder zu lachen. Zusammen verbrachten sie sogar einen ganzen Sonntag im Strandbad Wannsee. Einzig der Gedanke an das Kagee stand noch wie eine unsichtbare Barriere zwischen Stella und ihrem Vater. Mark verbuchte ihre phasenweise Verschlossenheit – da er ja deren eigentlichen Grund nicht kannte – einfach auf das Konto der
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