Das Netz der Schattenspiele
unter ihrem Headset und der VR-Brille steckte, den Datenhandschuh eng über ihrer Rechten, begrüßte Draggy sie mit dem Tagesbefehl.
»Finde den Weg aus dem Höhlenlabyrinth!«
Stella konnte nie vorhersagen, wann sich der Lindwurm in Klartext und wann in ihrer Geheimsprache ausdrücken würde. Dieses Mal war die Aufgabe jedenfalls unmissverständlich formuliert. Dennoch fragte Stella noch einmal nach, nur um sicherzugehen.
»Gibt es denn eine Welt außerhalb des Kagee?«
»Ja, die gibt es«, antwortete Draggy. »Wir müssen nur den Weg dorthin finden.«
Aus irgendeinem Grund kam Stella diese Aufgabe sonderbar vor. Sie erschien ihr wie ein Bruch der unausgesprochenen Regeln. Das Kagee hatte sich bisher nur in der Felsenwelt der Asmaden abgespielt, und mit einem Mal verlangte der Lindwurm, daraus auszubrechen.
»Ach, was soll’s.« Sie zuckte die Schultern. Vermutlich würde sie nach Bewältigung dieses fraglos schwierigen Problems einen höheren Spiellevel erreichen, wo sie zweifellos noch verzwicktere Rätsel erwarteten.
Während die Nachmittagsstunden verstrichen, arbeiteten sich Stella und Draggy durch eine lange Kette von Schattenworten. Die Hinweise waren auf alten Dokumenten zu finden, dann wieder aus dem Mund eines Asmadenweisen zu vernehmen, kurz: an allen möglichen und unmöglichen Stellen verborgen. Sie drangen in Regionen des Höhlensystems vor, die nie zuvor ein Mensch – oder Drache – gesehen hatte. Und dann – eben noch hatte sich ein Luftstrom in einem Felsloch verfangen und heulend das letzte Kagee geflüstert – sah Stella ein Licht.
Draggy wurde unruhig. Zielstrebig steuerte er auf das helle Ende des Ganges zu. Stella hatte sich so sehr an diese Welt der ewigen Dämmerung gewöhnt, dass sie nun regelrecht geblendet war. Der Lindwurm, direkt vor ihrer Nase, bestand nur noch aus einem schwarzen Schattenriss.
»Warte, Draggy!«, rief Stella, da sie dem Drachen nicht schnell genug folgen konnte.
Plötzlich hörte sie ein hämisches Lachen. Es klang unheimlich, gar nicht wie das ihres niedlichen kleinen Lindwurms. Und dennoch kam der Laut zweifellos aus seinem Rachen.
Stella blieb abrupt stehen. Ein eiskalter Schauer lief über ihren Rücken. Da stimmte etwas nicht! Von Draggy sah sie nur den Rücken, aber sie meinte trotzdem eine Veränderung an ihm wahrzunehmen. Misstrauisch, ja geradezu ängstlich fragte sie: »Was ist mit dir, Draggy?«
Da wandte sich der Lindwurm um. Stella gefror das Blut in den Adern. Sie blickte in eine schreckliche Fratze, in ein hämisch aufgerissenes, mit spitzen Zähnen gespicktes Maul.
»Draggy?« Ihre Stimme zitterte. Nein, das konnte nicht ihr freundlicher Lindwurm sein, der da auf sie zukam.
Die Silhouette des schlanken Drachenkörpers wurde bald völlig von dem immer größer werdenden roten Maul verdrängt, aus dem schaumiger Geifer troff. Stella vernahm ein schauriges Brüllen, das ihr durch alle Knochen fuhr. Der Rachen füllte nun ihr gesamtes Gesichtsfeld aus. Sie sah nur noch Zähne, eine rote Zunge und ein zitterndes Gaumenzäpfchen. Und dann – die Bewegung kam völlig überraschend – wirbelte der schuppige Wurm herum.
Für den Bruchteil einer Sekunde sah Stella noch das herzförmige Ende des Drachenschwanzes. Dann wurde es dunkel um sie.
Phase II – Das Ausschwärmen
VERWIRRUNG
Stella riss sich die Brille herunter. Ihr Atem ging stoßweise. Die Stirn glänzte von kaltem Schweiß.
»Du spinnst wohl!«
Die Unmutsäußerung galt nicht etwa dem Drachen, sondern ihrem Vater, dem genialen Spieleprogrammierer. Wie konnte Salomon ihr nur so etwa antun? Sie hatte sich beinahe zu Tode erschrocken!
Einige Atemzüge lang hatte sie noch fassungslos in die völlige Schwärze geblickt, bis sich ihr Misstrauen zurückmeldete. Erst langsam wurden ihr sämtliche Einzelheiten dieses gruseligen Abschieds bewusst, den ihr Draggy da bereitet hatte.
Vorsichtig warf sie wieder einen kurzen Blick durch die VR-Brille. Die beiden Miniaturbildschirme waren immer noch dunkel. Sie schaltete ihren Monitor ein, aber auch der zeigte nur Schwarz. Mit flinken Fingern drückte sie einige Tasten auf dem Keyboard. Es war »schwammig«, ohne jedes Klicken – ein sicheres Zeichen, dass sich ihr Computer »aufgehängt« hatte.
»Ich schätze, da habe ich einen Fehler in deinem Superspiel entdeckt, weiser Salomon.« Stella zwang sich zu einem Lächeln. Das musste die Erklärung für diese unerwartete Wende sein.
Sie schaltete ihren PC
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