Das Netz im Dunkel
und schickten sie zu Sylvia, die sie ihrerseits wieder in meine Richtung dirigierte, als wollte sie mich vom Spielzimmer fernhalten. Ich war wie benommen, aber Visionen zuckten vor meinem geistigen Auge vorbei. Ich sah meine Tante auf dem harten Boden liegen. Wenn nun Sylvia unten in der Halle gewesen war und ihre Kristalle dazu benutzt hatte, meine Tante mit den Sonnenlichtfarben zu blenden? Könnte das meine Tante so sehr verwirrt haben, daß sie gefallen war? Und versuchte Sylvia jetzt, auch mich zu Fall zu bringen?
»Leg das Ding weg, Sylvia!« schrie ich. »Leg es sofort weg. Und blitze mir nie wieder damit in die Augen! Hörst du?«
Wie das wilde Tier, mit dem Papa sie immer verglich, lief sie davon. Einen Moment war ich so verblüfft, daß ich nur hinter ihr herstarren konnte. Ich war erschrocken über meine eigene heftige Reaktion, setzte mich auf die unterste Stufe und versuchte, mich zusammenzureißen–und in diesem Augenblick öffnete sich die Haustür.
Eine Frau stand da, groß und schlank, mit einem hübschen Hütchen aus grünen Federn aller Schattierungen. Ein Nerzcape hing lässig über einer Schulter, und ihre grünen Schuhe paßten haargenau zu dem ausgesprochen teuer aussehenden grünen Kostüm.
»Hallo«, sagte sie mit ihrer heiseren Stimme. »Da bin ich wieder. Erkennst du mich nicht, süße Audrina?«
Ein zweites Leben
»Audrina, was hast du denn?« rief Vera mir zu, als ich wie ein kleines Kind vor ihr die Treppe hinauf zurückwich, ohne aufzustehen. »Bist du nicht ein bißchen alt für dieses kindische Benehmen? Also wirklich, Audrina, du veränderst dich wohl überhaupt nie, was?«
Als sie jetzt in die Halle marschierte, schien Vera kaum zu hinken. Aber als ich genauer hinsah, entdeckte ich, daß die linke Sohle ihrer hochhackigen Schuhe zwei Zentimeter dicker war als die rechte Sohle. Graziös näherte sie sich der Treppe. »Ich habe im Dorf gehalten, und man hat mir erzählt, daß du tatsächlich Arden Lowe geheiratet hast. Ich hätte nie gedacht, daß du jemals erwachsen genug sein würdest, um überhaupt irgend jemanden zu heiraten. Meine Glückwünsche ihm, diesem Narren, und meine besten Wünsche für dich, der Braut, die es eigentlich besser wissen sollte.«
Das Schlimme war, daß es sehr wohl stimmen konnte, was sie da sagte.
»Freust du dich nicht, mich zu sehen?«
»Deine Mutter ist tot.«
Wie grausam ich das sagte. Als wollte ich mich rächen, eine alte Rechnung begleichen.
»Also wirklich, Audrina, das weiß ich doch.«
Ihre dunklen Augen waren kalt, als sie mich von oben bis unten musterte. In ihrer eigenen, schweigsamen Art machte sie mir so deutlich klar, daß ich keine Konkurrenz für sie war. »Im Gegensatz zu dir, liebe Audrina, habe ich Freunde im Dorf, die mich auf dem laufenden halten über das, was hier vorgeht. Ich wünschte, ich könnte sagen, daßes mir leid tut, aber das kann ich nicht. Elsbeth Whitefern war niemals eine richtige Mutter für mich, nicht wahr? Deine Mutter war netter.«
Sie drehte sich langsam um und atmete genüßlich aus. »Oh! Nun sehe sich einer das Haus an! Wie ein Palast. Wer hätte je gedacht, daß der liebe Papa ein solcher Idiot sein könnte, ein altes Haus wie dieses wieder herrichten zu lassen. Für den Preis hätte er zwei neue kaufen können.«
Ich stand jetzt mitten auf der Treppe und versuchte, ein bißchen von meiner verlorenen Fassung zurückzugewinnen. »Bist du aus einem bestimmten Grund hierhergekommen?«
»Freust du dich nicht, mich zu sehen?«
Lächelnd legte sie den Kopf auf eine Seite und musterte mich erneut. Dann lachte sie. »Nein, man sieht es dir an. Hast du immer noch Angst vor mir, Audrina? Angst, daß dein junger Mann eine richtige Frau doppelt so reizvoll finden könnte wie eine bescheidene, scheue Frau, die ihm kein wirkliches Vergnügen schenken kann? Wenn ich dich bloß anschaue in diesem weißen Kleid, weiß ich schon, daß du dich nicht verändert hast. Wir haben November, kleines Mädchen. Winterzeit. Die Saison für leuchtende Farben, Partys, Ferien und Fröhlichkeit, und du trägst ein weißes Kleid.«
Sie lachte noch einmal, ironisch, spöttisch. »Erzähl mir bloß nicht, dein Ehemann wäre kein Liebhaber und du bist immer noch Papas unberührter Liebling.«
»Es ist ein Wollkleid, Vera. Die Farbe nennt man Winterweiß. Es ist ein teures Kleid, das Arden selbst für mich ausgesucht hat. Er hat es gern, wenn ich Weiß trage.«
»Natürlich«, sagte sie noch spöttischer. »Er kommt deinem
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