Das Netz im Dunkel
eifersüchtig ist, weil sie sieht, daß du mich auch gern hast, und sie mußte deine Liebe noch niemals mit irgend jemandem teilen. Als ich noch in unserem Häuschen lebte, war das etwas anderes, aber jetzt lebe ich in ihrem Heim und stehle ihr deine Aufmerksamkeit und deine Zeit. Auch Arden ist ein Konkurrent für sie, aber sie ist nicht eifersüchtig auf ihn vielleicht, weil er sie in Ruhe läßt. Ich bin es, die sie beneidet. Mehr noch, ich glaube, sie ist nicht annähernd so zurückgeblieben, wie du glaubst, Audrina. Sie ahmt dich nach. Sobald du ihr den Rücken zudrehst, folgt sie dir. Und sie kann genauso normal gehen wie du–wenn sie weiß, daß du sie nicht sehen kannst.«
Ich wirbelte herum und ertappte Sylvia direkt hinter mir. Sie schien überrascht, und hastig öffneten sich ihre geschlossenen Lippen, ihre Augen wurden leer, wie blind. »Billie, du solltest solche Dinge nicht sagen. Sie kann hören. Und wenn es stimmt, was du sagst–obwohl ich es nicht glaube–,dann könnte sie es verstehen und verletzt sein.«
»Natürlich versteht sie es. Sie ist nicht besonders intelligent, aber auch nicht vollkommen dumm.«
»Aber ich verstehe nicht…warum sollte sie so tun…«
»Wer hat dir gesagt, daß sie hoffnungslos zurückgeblieben ist?«
Sylvia war in den Korridor hinausgewackelt, hatte Billies kleinen roten Karren mitgenommen. Während ich sie beobachtete, setzte sie sich darauf und fing an, sich herumzuschieben, wie Billie es machte.
»Papa hat sie erst heimgebracht, als sie zweieinhalb Jahre alt war. Er hat mir erzählt, was die Ärzte ihm gesagt haben.«
»Ich bewundere Damián, auch wenn ich es nicht gutheiße, wie er dein Leben mit der Fürsorge deiner kleinen Schwester belastet hat. Vor allem, da er es sich leisten könnte, eine Pflegerin oder besser noch einen Therapeuten für sie zu engagieren. Tu, was du kannst, um ihr etwas beizubringen, und mach vor allem mit deinem Sprachtraining weiter. Gib Sylvia nicht auf. Auch wenn diese Arzte ihre ehrliche Meinung gesagt haben: Eswerden oft Fehler gemacht. Es gibt immer Hoffnung für eine Besserung.«
In den nun folgenden Monaten überzeugte Billie mich davon, daß ich meinen Vater vielleicht doch falsch eingeschätzt hatte. Sie betete ihn offensichtlich an. Er ignorierte die Tatsache, daß sie keine Beine hatte, und behandelte sie mit so viel Galanterie, daß ich überrascht und erfreut war. Papa ließ sogar einen besonderen Rollstuhl für Billie anfertigen. Er haßte ihren kleinen roten Karren von ganzem Herzen, aber der schmucke Sessel mit versteckten Rädern rollte ihr nicht schnell genug herum. Sie benutzte ihn nur, wenn Papa in der Nähe war.
Arden schuftete wie ein Sklave, studierte dann die halbe Nacht und versuchte, sich an alles zu erinnern, was er für die Prüfung wissen mußte. Er sagte, daß er es so haben wollte, aber ich wußte, daß er nicht mit dem Herzen bei der Sache war.
»Arden, wenn du kein Börsenmakler werden willst, dann gib auf und mach etwas anderes.«
»Ich will aber–mach weiter, bring’s mir bei.«
»Nun«, fing ich an, als er mir am Tisch in unserem Schlafzimmer gegenübersaß, »sie werden dir verschiedene Tests geben, um deine Aufnahmefähigkeit zu prüfen. Danach kommt deine Wortgewandtheit, und du mußt verstehen, was du sagst, was ja eigentlich selbstverständlich ist.«
Ich lächelte ihm zu und schob seinen Fuß von meinem Bein. »Bitte beantworte mir jetzt folgende Fragen: Würdest du ein Bild lieber malen, ansehen oder verkaufen?«
»Malen«, antwortete Arden schnell.
Stirnrunzelnd schüttelte ich den Kopf. »Zweite Frage. Würdest du ein Buch am liebsten lesen, schreiben oderverkaufen?«
»Schreiben…aber das ist wahrscheinlich falsch. Die richtige Antwort ist: ein Buch verkaufen, ein Bild verkaufen, stimmt’s?«
Nachdem er dreimal durchgefallen war, bestand mein Mann endlich die Prüfung und wurde ein ›Wall-Street-Cowboy‹.
Eines Tages, als ich mit meiner Hausarbeit fertig war, schlenderte ich in das Zimmer, in dem der Flügel meiner Mutter stand. Ich lächelte ironisch, als ich Tante Mercy Maries Foto hervorholte und auf den Flügel stellte. Wer hätte je gedacht, daß ich einmal freiwillig etwas so Verrücktes tun würde? Vielleicht kam es, weil ich an meine Tante denken mußte und traurig war, daß ich nicht bei ihrer Beerdigung war. Um das wiedergutzumachen, ging ich oft an ihr Grab und legte frische Blumen hin–natürlich auch auf das Grab meiner Mutter. Nie, niemals brachte ich
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