Das Netz im Dunkel
Liebes?«
»Ja, Papa«, antwortete sie mit einem strahlenden Lächeln. »Ich fühle mich jetzt prima.«
Kaum sagte sie das, als Papa mich anstrahlte. Er zwinkerte mir zu, und ich bin überzeugt, daß Vera es gesehen hat. Sie schlug die Augen nieder und starrte auf ihren Teller. Sie weigerte sich, ihre Gabel zu nehmen und zu essen. »Ich habe keinen Hunger«, erklärte sie, als meine Mutter sie zu überreden versuchte.
»Iß jetzt«, befahl Tante Elsbeth, »oder du bekommst erst wieder zum Frühstück etwas. Damián, du hättest wissen sollen, daß du den Kindern nichts Süßes vor dem Essen geben darfst.«
»Ellie, du gehst mir auf die Nerven. Vera wird schon nicht an Unterernährung sterben. Morgen stopft sie sich wieder so voll, wie sie es vor ihrem Sturz getan hat.«
Er streckte den Arm aus, um Veras blasse, lange Finger zu drücken. »Nun komm schon, Liebes, iß. Zeig deiner Mutter, daß du doppelt soviel vertragen kannst wie sie.«
Vera fing an zu weinen.
Wie schrecklich, daß Papa so grausam sein konnte! Nach dem Essen lief ich genau wie Mammi die Treppe hinauf, warf mich auf mein Bett und heulte aus vollem Hals. Ich wünschte mir ein einfaches Leben mit festem Boden unter den Füßen. Aber alles, worauf ich stand, war Treibsand. Ich wünschte mir Eltern, die ehrlich und beständig waren, nicht so launisch, daß ich mich nie darauf verlassen konnte, ob ihre Liebe nicht nur ein paar Minuten anhielt.
Eine Stunde später hallte der Flur von Papas schweren Schritten wider. Er machte sich nicht die Mühe zu klopfen, er riß einfach so heftig die Tür auf, daß der Griff noch eine Kerbe in die Wand schlug. Es gab zwar einen Schlüssel zu der Tür, aber ich wagte nie, ihn zu benutzen,aus Angst, mein Vater würde die Tür eintreten, wenn ich es tat. Papa betrat mein Zimmer in einem neuen Anzug, den er nach dem Abendessen angezogen hatte, und erzählte mir, daß er und Mammi ausgehen würden. Er hatte sich noch einmal rasiert, geduscht, und sein Haar umrahmte den Schädel in sanften, perfekten Wellen. Er setzte sich auf mein Bett, ergriff meine Hand und erlaubte mir, seine großen, eckigen Nägel zu sehen, die so lange poliert worden waren, daß sie glänzten.
Minuten verstrichen, in denen er einfach nur dasaß und meine Hand hielt. Die Nachtvögel in den Bäumen vor meinem Schlafzimmerfenster zwitscherten. Die kleine Uhr auf meinem Nachttisch zeigte zwölf Uhr, aber das war nicht die richtige Zeit. Ich wußte, daß er und Mammi nicht um Mitternacht ausgehen würden. Ich hörte in der Ferne ein Boot pfeifen, dann lief ein Schiff aus.
»Nun«, meinte er schließlich, »was habe ich denn diesmal getan, um dein empfindliches Ego zu verletzen?«
»Du brauchst nicht in der einen Minute so nett zu Vera sein und dann in der nächsten so gemein. Ich habe Vera nicht die Treppe hinuntergestoßen.«
Ich stockte. Gewiß klang meine Stimme nicht gerade glaubwürdig.
»Ich weiß, daß du sie nicht geschubst hast«, sagte er ungeduldig. »Das hättest du mir gar nicht zu erzählen brauchen. Audrina, gestehe niemals ein Verbrechen, bevor du überhaupt angeklagt bist.«
Seine dunklen Augen glitzerten im Dämmerlicht. Er machte mir angst.
»Deine Mutter und ich werden den Abend mit Freunden in der Stadt verbringen. Du brauchst heute abend nicht in den Schaukelstuhl. Sei einfach ein liebes Mädchen und schlaf, ohne zu träumen.«
Glaubte er, ich könnte meine Träume beherrschen? »Wie alt bin ich, Papa? Der Schaukelstuhl hat mir das nie verraten.«
Er stand auf und ging zur Tür. Dort blieb er noch einmal stehen und sah mich an. Das Licht der Gaslampen im Flur schimmerte auf seinem dichten, schwarzen Haar. »Du bist sieben und wirst bald acht.«
»Wie bald?«
»Sehr bald.«
Er kam zurück und setzte sich wieder. »Wie alt möchtest du denn sein?«
»Nur so alt, wie ich sein sollte.«
»Du würdest einen guten Anwalt abgeben, Audrina. Du gibst mir niemals eine direkte Antwort.«
Ich übernahm seine Gewohnheiten. »Papa, sag mir noch mal, warum ich mich nicht mehr genau erinnern kann, was ich im letzten Jahr und in dem Jahr davor gemacht habe.«
Er seufzte tief, wie immer, wenn ich zu viele Fragen stellte. »Liebling, wie oft muß ich dir das denn noch erzählen? Du bist ein besonderes Mädchen, mit so außergewöhnlichen Talenten, daß du einfach nicht bemerkst, wie die Zeit vergeht. Du spazierst ganz für dich allein durch Zeit und Raum.«
Das wußte ich schon. »Aber das gefällt mir nicht, Papa. Ich fühle mich
Weitere Kostenlose Bücher