Das Netz im Dunkel
entschlossen, nur an schöne Dinge zu denken, ehe ich einschlief, denn ich hoffte, so auch schön zu träumen. Erstaunlich geschickt hüpfte sie auf den Krücken, an die sie sich gewöhnt hatte, herein und brachte es sogar fertig, dabei noch eine Büchertasche zu tragen, die sie sich um die Schulter gehängt hatte. Bloß sah diese Büchertasche anders aus als alles, was ich je gesehen hatte.
»Hier«, sagte sie und warf die Tasche auf mein Bett. »Bilde dich selbst weiter. Diese beiden Weiber in der Küche werden dir niemals beibringen, was ich dir beibringen kann.«
Ich war ein wenig skeptisch, aber auch glücklich, weil sie sich für meine Fortbildung interessierte. Ich wußte, daß mir vieles entging, weil ich keine Schule besuchen durfte. Als ich den Inhalt der Tasche auf mein Bett schüttete, fielen mir Dutzende von Fotos entgegen, die aus Zeitschriften ausgeschnitten worden waren. Ich traute meinen Augen nicht, als ich sie aufhob und sortierte. Ich starrte die ganze Zeit auf Bilder von nackten Männern und Frauen, die sich auf sonderbare, lüsterne Art eng umschlungen hielten. Die blöden Fotos klebten an meinen Fingern; wenn ich sie von einer Hand losriß, dann blieben sie gleich an der andern kleben. Und dann hörte ich zu meinem Kummer auch schon Papas schweren Schritt. Er ging auf mein Zimmer zu.
Das hatte Vera absichtlich getan! Sie wußte, daß Papa jeden Abend um diese Zeit in mein Zimmer kam.
»Ich gehe«, meinte Vera und grinste entzückt. Siehumpelte auf die Tür zu ihrem Schlafzimmer zu, das an meines grenzte. »Und wag es ja nicht, ihm zu erzählen, daß ich hiergewesen bin. Wenn du weißt, was gut für dich ist!«
Aber auf ihren Krücken war sie doch nicht schnell genug. Papa riß die Tür auf und schaute uns beide an. »Was geht hier vor?« fragte er.
Ich zögerte, klebten doch alle Beweise meiner Schuld an meinen Fingern. So hatte Vera Gelegenheit, mir alle Schuld in die Schuhe zu schieben. »Ich habe diese Büchertasche in einem Schrank gefunden, und da Audrinas Initialen darauf standen, dachte ich, diese Audrina sollte sie haben.«
Mit vor Wut gerunzelter Stirn kam Papa zu mir und riß mir die Bilder aus den Händen. Er warf einen Blick darauf und heulte zornig auf. Dann wirbelte er herum und schlug auf Vera ein dabei ging es ihr doch ohnehin schon so schlecht. Als läge sie im Sterben, heulte Vera auf: »Sie gehören ihr! Warum schlägst du mich?«
Papa hob Vera hoch und hielt sie, als wäre sie ein kleiner Hund aus der Gosse. Er hielt sie über mein Bett. »So, und jetzt heb sie auf!« befahl er mit rauher Stimme. »Meine erste Audrina würde diesen Dreck genausowenig ansehen, wie sie dich teeren und federn würde–was ich aber tun werde, wenn du nicht aufhörst, mich zu quälen! So, und jetzt mußt du die Bilder essen«, fügte er hinzu, als Vera sie in ihrer bleichen, unruhigen Hand hielt. Ich dachte, er machte Witze; sie wohl auch.
»Ich schreie nach meiner Mutter!« drohte Vera. »Ich bin verletzt! Ich habe mir die Knochen gebrochen! Laß mich los, oder ich gehe morgen zur Polizei und erkläre, du hättest mich verge–«
»Iß sie auf!« brüllte er. »Du hast sie mit Klebstoffversehen. Sie sollten also nicht schlechter schmecken als das, was deine Mutter kocht.«
»Pa…Pa«, heulte sie. »Zwing mich nicht, Papier und Klebstoff zu essen!«
Er schnaubte verächtlich und trug Vera aus dem Zimmer. Ein paar Sekunden später hörte ich sie schreien, als er ihre nackte Haut mit seinem Gürtel bearbeitete. Ich wußte nicht genau, ob er seinen Gürtel benutzte, wenn sie nackt war. Aber zehn zu eins würde sie es mir so erzählen. Vera konnte schon schreien, wenn eine Fliege auf ihrem Arm saß, also woher sollte ich es wissen, wenn ich nicht hinging und es mir anschaute? Aber ich tat es nie, denn aus irgendeinem Grund fürchtete ich, es könnte wahr sein.
Minuten verstrichen. Mein Herz klopfte wild. Endlich erstarben Veras Schreie, aber noch immer kehrte Papa nicht zurück.
Irgendwo unten schlug eine Uhr zehnmal, aber das hieß nichts. Jeder Knochen in meinem Körper schmerzte, jeder Muskel war angespannt. Ich wußte, daß ich heute abend wieder im Schaukelstuhl würde sitzen müssen.
Endlich, als ich die Warterei nicht länger aushalten konnte und wußte, daß ich nicht einschlafen würde, ehe ich tat, wozu er mich zwingen würde, hörte ich eine Tür zufallen. Bald darauf erklangen schwere Schritte auf dem Korridor. Papas Gang war stetig, und unter seinem Gewicht knarrten die
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