Das Netz im Dunkel
ist Vera, Mammi?«
»Was hat sie dir denn gesagt, wie alt sie sei?«
»Manchmal sagt sie, sie ist zehn, manchmal sagt sie, sie ist zwölf, und manchmal auch sechzehn oder sogar zwanzig. Mammi, sie lacht, als ob sie sich über michlustig macht…weil ich wirklich nicht weiß, wie alt ich selbst bin.«
»Aber natürlich weißt du, daß du sieben bist. Haben wir dir das nicht wieder und wieder gesagt?«
»Aber ich kann mich nicht an meinen siebten Geburtstag erinnern. Haben wir ihn gefeiert? Und feiert Vera ihren Geburtstag? Ich kann mich an keine einzige Feier erinnern.«
»Vera ist drei Jahre älter als du«, sagte Mammi schnell. »Wir können uns Geburtstagsfeiern nicht mehr leisten. Nicht, weil wir kein Geld dafür haben–aber du weißt ja, daß Geburtstagsfeste tragische Erinnerungen wecken. Weder dein Vater noch ich können den Gedanken an Geburtstagsfeiern ertragen. Deshalb haben wir alle nie mehr Geburtstag und behalten das Alter, das uns am besten gefällt. Ich werde zweiunddreißig bleiben.«
Sie kicherte und küßte mich wieder. »Das ist ein hübsches Alter, nicht zu jung und nicht zu alt.«
Aber mir war es ernst, und ich hatte die Ausflüchte satt. »Dann hat Vera meine tote Schwester gekannt, ja? Sie sagt das jedenfalls. Aber wie kann sie das, wenn sie nur drei Jahre älter ist als ich?«
Wieder wirkte meine Mutter bekümmert. »In gewisser Weise hat sie sie gekannt. Weißt du, wir haben soviel von ihr gesprochen. Vielleicht reden wir immer noch zuviel über sie.«
Und so ging es immer, Ausflüchte, aber keine Enthüllungen, wenigstens nicht die, die ich mir wünschte, an die ich hätte glauben können.
»Wann darf ich zur Schule?« fragte ich.
»Eines Tages«, murmelte Mammi, »schon bald…«
»Aber, Mammi«, beharrte ich und folgte ihr in dieKüche, wo ich half, das Gemüse für den Salat zu schneiden. »Ich falle doch nicht immer hin und breche mir die Knochen. Also wäre ich in der Schule sicherer als Vera.«
»Nein, du fällst nicht«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich glaube, dafür sollten wir dankbar sein–aber du hast andere Möglichkeiten, dir selbst weh zu tun, nicht wahr?«
Hatte ich die?
Papas Traum
Noch ehe die Dunkelheit der Dämmerung folgen konnte, war Papa schon aus dem Krankenhaus zurück und trug Vera in den neurömischen Salon. Als wenn Vera so leicht wie eine Feder wäre–selbst mit dem hüftlangen Gips an ihrem linken Bein und dem frischen Gips an ihrem linken Arm–,legte Papa sie vorsichtig und liebevoll auf die purpurfarbene Samtcouch, die Mammi so liebte. Vera schien sehr glücklich mit der großen Pralinenschachtel, die sie auf dem Heimweg vom Krankenhaus schon zur Hälfte leergegessen hatte. Sie bot mir nichts an. Also stand ich da und wünschte mir sehnsüchtig, wenigstens eine Praline zu bekommen. Dann sah ich, daß Papa ihr auch ein neues Puzzle gekauft hatte, das sie mit ihrem rechten, gesunden Arm zusammenfügen konnte. »Schon gut, Liebling«, besänftigte er mich. »Ich habe dir auch Pralinen und ein Puzzle mitgebracht. Aber du solltest dankbar sein, daß du nicht fallen und dir die Knochen brechen mußt, um ein bißchen Aufmerksamkeit und Liebe zu bekommen.«
Augenblicklich warf Vera ihr Puzzle fort und schob die Pralinen vom Tisch. »Aber, aber«, beruhigte Papa sie, hob die Schachtel auf und reichte sie ihr. »Dein Puzzle ist sehr groß. Audrinas ist nur klein. Und du hast eine Schachtel mit zwei Pfund Süßigkeiten, und Audrinas Schachtel wiegt nur ein Pfund.«
Wieder glücklich grinste Vera mich an. »Danke, Papa. Du bist so gut zu mir.«
Sie streckte die Arme nach ihm aus, damit er sie küßte. Ich krümmte mich innerlich, haßte sie, weil sie ihn Papa nannte, wo er doch gar nicht ihr Vater war, sondern meiner. Ich nahm ihm den Kuß übel, den er ihr auf dieWange drückte, ebenso wie die große Schachtel Pralinen und das größere Puzzle, das auch noch schönere Farben hatte als das, was Papa mir gegeben hatte.
Unfähig, sie noch länger anzusehen, schlenderte ich hinaus auf die Veranda und starrte zum Mond empor, der über dem dunklen Wasser aufging. Es war ein Viertelmond, den Papa Hornmond nannte, und ich bildete mir ein, das Profil vom Mann im Mond sehen zu können, der alt und gebrechlich aussah. Der Wind, der durch die Sommerblätter rauschte, klang nach Einsamkeit und erzählte mir, daß die Blätter bald sterben würden, der Winter kommen würde. Dabei hatte ich den Sommer überhaupt noch nicht genossen. Ich konnte mich schwach an
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