Das Netz im Dunkel
weil ich nicht hier war. Ich war mit meiner Schwester Sylvia unten am Fluß.«
»Sie beide waren die ganze Zeit über zusammen?«
»Ja, Sir, die ganze Zeit.«
»Und als Sie zurückkamen, fanden Sie Ihre Schwiegermutter tot am Boden?«
»Nein, Sir. Kurz nachdem wir eingetreten waren, noch ehe ich Gelegenheit hatte, eine Lampe anzumachen, hörte ich sie herunterfallen und den Karren auch.«
Vera beobachtete den jüngeren Polizisten. Er war etwa dreißig und starrte sie die ganze Zeit an. Oh, mein Gott! Sie flirtete mit ihm, schlug die Beine übereinander, nahm sie wieder auseinander, spielte mit dem Ausschnitt ihres halb offenstehenden Bademantels. Der ältere Polizist schien nicht annähernd so interessiert, sondern vielmehr empört. »Das heißt also, Miß Whitefern, daß Sie die einzige waren, die sich hier im Haus aufhielt, als Mrs. Lowe senior gestürzt ist?« meinte er ruhig.
»Ich habe gebadet«, wiederholte Vera und warf mir einen wütenden Blick zu. »Ich habe mich heute morgen gesonnt, und danach fühlte ich mich verschwitzt. Ich bin ins Haus gegangen, um mir die Haare zu waschen, und wie ich es immer mache, habe ich gebadet und mir die Nägel lackiert. Auch die Zehennägel«, sagte sie. Sie streckte die perfekt manikürten Nägel vor. Die leuchtenden Zehennägel blitzten durch die Sandalen. »Wenn ich mit Mrs. Lowe gekämpft hätte, hätte ich mir den Lack verschmiert.«
»Wie lange dauert es, bis Nagellack trocknet?«
Das fragte er mich, nicht Vera.
»Das kommt darauf an.«
Ich versuchte mich zu erinnern. »Eine Schicht trocknet schnell, aber je mehr Schichten man nimmt, desto länger dauert es, bis sie trocken sind. Ich gehe mindestens dreißig Minuten lang sehr vorsichtig mit frisch lackierten Nägeln um.«
»Genau!« sagte Vera und sah mich dankbar an. »Und wenn Sie etwas von Nägeln verstehen, dann können Sie sehen, daß ich fünf Schichten aufgetragen habe, Unterlackund Oberlack mitgerechnet.«
Die Polizisten schienen verloren, angesichts solch komplexer Schönheitskunde.
Es wurde festgestellt, daß unsere Treppe höchst gefährlich ist, vor allem, nachdem sie inspiziert worden war und die Beamten ein loses Stück im Teppich entdeckt hatten. »Da kann sie leicht drüber gestolpert sein«, erklärte der jüngere Beamte.
Ich starrte auf den roten Teppich und versuchte mir zu erklären, wie das möglich sein konnte, wo doch das Haus gerade erst von oben bis unten renoviert worden war. Und ein neuer Teppich war dabei auf die Treppe gekommen. Außerdem–wie konnte eine Frau ohne Beine überhaupt stolpern? Wenn sie sich nicht mit der Hand verfangen hatte oder ihre Kleider waren irgendwo hängengeblieben…oder ein Lichtstrahl war in ihre Augen gelenkt worden, um sie zu blenden. Aber die Halle war ganz dunkel gewesen, nachdem die Sonne hinter den Wolken verschwunden war.
Vielleicht sahen wir alle zu bekümmert aus, um als Mörder zu gelten; oder Papa hatte Verbindungen; auf jeden Fall wurde wieder ein Tod auf Whitefern zu einem Unfall erklärt.
Von nun an fühlte ich mich in Sylvias Gegenwart unwohl. Auch Tante Elsbeth hatte sie nicht gemocht. Ich fing an, sie heimlich zu beobachten, und wieder wurde mir bewußt, daß Sylvia jeden verabscheute, der ihr ihren Platz in meinem Herzen streitig zu machen drohte. Es stand in ihren Augen, in ihren Reaktionen, daß ich die einzige in ihrem Leben war, die zählte, und daß sie sich immer an mich klammern würde. Ich selbst hatte sie dazu gebracht–mit ein bißchen Nachhilfe von Papa.
Am Tage von Billies Beerdigung war ich sterbenskrank. Ich hatte die schlimmste Erkältung meines Lebens. Fiebrig und deprimiert lag ich auf dem Bett, und Vera pflegte mich, froh darüber, ihre beruflichen Fähigkeiten zur Schau stellen zu können, so schien es. Glühend vor Fieber warf ich mich hin und her und hörte sie kaum, als sie davon sprach, wie hübsch Arden geworden war. »Er hat natürlich schon immer gut ausgesehen, aber als er ein Junge war, hielt ich ihn für schwach. Er scheint ein bißchen von Papas Kraft und Persönlichkeit angenommen zu haben…ist dir das auch aufgefallen?«
Was sie sagte, war wahr. Ardens Einstellung meinem Vater gegenüber war ebenso wankelmütig wie meine. Er verachtete und bewunderte ihn. Und Stück für Stück übernahm er Papas Eigenheiten, seinen Gang, seine resolute Art zu sprechen.
Im Traum sah ich Billie am Fenster ihres Häuschens sitzen und Arden und mir Kekse reichen. Wir waren noch Kinder. Ich sah sie, wie sie in der
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