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Das Netz im Dunkel

Das Netz im Dunkel

Titel: Das Netz im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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Vergnügens gewesen war. Ich breitete die Arme aus, schrie zum Himmel empor, zu Gott, dem Wind, der sich erhob und an meinem Haar zerrte und meinen Rock peitschte. Der Wind gellte zurück und griff mich noch gewaltiger an, so heftig, daß ich fast gefallen wäre. Wieder brüllte ich, forderte ihn heraus, mir weh zu tun. Niemand und nichts würde mir jemals vorschreiben, was zu tun war oder nicht, niemals wieder würde ich irgend jemandem glauben außer mir!
    Plötzlich wurde mein Arm gepackt. Arden wirbelte mich herum. Ich schlug mit geballten Fäusten nach ihm, hämmerte gegen sein Gesicht, seine Brust. Aber ebenso leicht wie Papa hielt er meine Hände fest, und vielleicht hätte er mich auch mit sich zum Haus zurückgeschleift–aber diesmal stand das Schicksal auf meiner Seite. Er verlor das Gleichgewicht und ließ mich los. Ich war frei und rannte weiter.
    Die weißen Marmorgrabsteine vom Whitefern-Friedhof tauchten vor mir auf, ragten düster vor dem bedrohenden Himmel empor. Zuckende Blitze in der Ferne verkündeten einen bösen Sturm. Tiefer, bedrohlicher Donner grollte über den Baumwipfeln nahe der Kirche. Ich hatte Angst vor Stürmen, wenn ich nicht im Haus war. Möge Gott mir hier draußen helfen; ihr hatte er nicht geholfen, und wahrscheinlich würde er mir genausowenig helfen.
    Entsetzt und verängstigt, doch von der Suche nach der Wahrheit angetrieben, wirbelte ich herum und fing an, nach etwas zu suchen, mit dem ich graben konnte. Warum hatte ich nicht daran gedacht, eine Schaufel mitzunehmen?
    Wo bewahrte der Mann, der sich um die Gräber kümmerte, sein Werkzeug auf? Irgendwo mußte ich etwas finden, mit dem ich graben konnte.
    Eine niedrige, verfallene Ziegelmauer umschloß unsere Familiengrabstätte. Roter Efeu kroch über die Steine und versuchte, alles Leben darin zu ersticken. Selbst im Winter, wenn Papa uns gezwungen hatte, mindestens einmal die Woche hierherzukommen, möglichst sonntags, bei Regen und Sonne, ob ich krank war oder nicht, war es immer ein bedrückender, düsterer Ort gewesen, an dem die Bäume mit ihren schwarzen, knochigen Fingern nach dem Himmel griffen. Jetzt im September, als die Bäume überall sonstwo leuchteten und glänzten, jagten die Blätter auf dem Friedhof braun und trocken über die Erde, und sie hörten sich an wie Gespenster, die leise in ihre Gräber zurücktappten.
    Ich blieb stehen, schaute mich um und fing an zu zittern. Ich sah das Grab meiner Mutter, Tante Elsbeths und Billies. Neben dem Grab meiner Mutter war ein leerer Raum. Hier würde eines Tages mein Vater liegen, und neben ihm war das Grab der ersten und unvergessenen Audrina. Es hatte mich unwiderstehlich hierhergezogen. Jetzt rief sie mich aus ihrem Sarg, lachte über mich, sagte mir auf alle möglichen Arten, daß ich ihr niemals an Schönheit, Charme und Intelligenz gleichkommen würde und daß ihre ›Gaben‹ ihr allem gehörten und sie niemals auch nur auf eine einzige davon verzichten würde, um mich davor zu bewahren, etwas ganz Gewöhnliches zu sein.
    Ihr Grabstein war es, der am meisten leuchtete. Er erhob sich hoch und schlank und grazil, wie ein junges Mädchen, und dieser allein stehende Grabstein schien heller als die anderen, fing all das geisterhafte Licht ein, das es auf dem Friedhof gab.
    Ich redete mir ein, daß wir immer das sehen, was wir zu sehen wünschen, und das wäre alles. Es gab keinen Grund, Angst zu haben, überhaupt keinen. Entschlossen marschierte ich auf den Grabstein zu.
    Wie oft hatte ich genau dort gestanden, wo ich jetzt stand, und hatte sie gehaßt? »Und hier ist das Grab meiner geliebten ersten Audrina«, hörte ich Papa sagen, als ich zögerte. »Hier ruht meine erste Tochter in geweihtem Boden. An ihrem Platz an meiner Seite, wenn der Herr es für richtig hält, mich zu sich zu rufen.«
    O nein! Nicht mehr, nicht mehr! Ich fiel auf die Knie und fing an, mit bloßen Händen im toten Gras zu wühlen. Meine Nägel brachen ab; bald waren meine Finger wund und blutig. Doch noch immer grub ich weiter; ich mußte endlich die Wahrheit erfahren.
    »Hör auf damit!« brüllte Arden, der auf den Friedhof gestürzt kam. Er rannte herbei und riß mich auf die Füße. Er mußte mit mir ringen, um mich davon abzuhalten, wieder zu Boden zu fallen und mit dem fortzufahren, was ich glaubte tun zu müssen. »Was, zum Teufel, ist in dich gefahren?« schrie er. »Warum gräbst du an diesem Grab?«
    »Ich muß sie sehen!« schrie ich. Er sah mich an, als wäre ich verrückt.
    Der

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