Das Netz im Dunkel
fortgerannt.
»Wo ist sie, Papa?«
Er zögerte, drehte mich so, daß er mir in die Augen sehen konnte. Über uns klingelten die Glasspiele, und instinktiv wußte ich, daß sie das tun würden, bis ich das Geheimnis erfahren hatte.
Ich war in Papas starken Armen gefangen, mitten aufdem türkischen Teppich. Er hatte mich dorthin gezogen, damit ich nicht zu nah am Glas stehen würde. »Warum hast du mich jetzt von den Fenstern fortgezogen, Papa?«
»Der Himmel. Hast du die dunklen Wolken nicht bemerkt? Ein Sturm braut sich zusammen, und ich mag nicht hier oben sein, wenn ein Sturm aufzieht. Laß uns nach unten gehen, ehe ich dir den Rest erzähle.«
»Erzähle ihn jetzt, Papa. Hierher ist sie immer zum Spielen gekommen. Ich habe immer gewußt, daß diese Papierpuppen ihre Puppen waren.«
Er räusperte sich, und ich mußte es auch tun. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, atmete zu schnell, spürte, daß ich vor lauter Panik gleich schreien würde. Es war wie damals mit sieben Jahren, wenn ich im Schaukelstuhl saß und Angst hatte, so große Angst.
Papa seufzte, ließ mich los, um seine großen Hände vors Gesicht zu schlagen, aber nur kurz, als hätte er Angst, mich zu lange loszulassen. »Ich habe dieses Mädchen geliebt, o Gott, wie sehr habe ich es geliebt. Sie hat denen, die sie liebte, so viel geschenkt, hat mir so sehr vertraut. Sie war wirklich das einzige weibliche Wesen, das mir jemals vollkommen vertraut hat, und ich habe mir geschworen, sie niemals zu enttäuschen. Nicht nur, daß sie ein außergewöhnlich schönes Kind war; sie war auch charmant, herzlich, freundlich, süß und bezaubernd. Und sie besaß noch etwas, eine unerklärliche Eigenschaft, die sie von innen heraus vor Glück leuchten ließ; ihre Lebensfreude war so groß und überschäumend, daß sie alle mitriß und ansteckte. Wenn man mit ihr zusammen war, fühlte man sich lebendiger als mit irgend jemandem sonst. Ein Ausflug an den Strand, zum Zoo, ins Museum oder in den Park, und sie erhellte dein Leben, gab dir das Gefühl, wieder ein Kind zu sein, alles durch ihre Augen zu sehen. Und weil sie so wunderbare Dinge sah, konntest dusie auch sehen. Es war eine seltene Gabe, mehr wert als alles, was man mit Geld kaufen kann. Das allerkleinste Geschenk nur entzückte sie schon. Sie liebte das Wetter, das gute und das schlechte. Sie hatte so seltene Gaben, so ausgesprochen seltene.«
Er schluckte, schlug kurz die Augen nieder und sah mich an, wandte sich dann hastig ab.
»Sogar deine Mutter war glücklich, wenn Audrina in der Nähe war, und Gott weiß, daß Lucky genug Grund hatte, unglücklich zu sein. Elsbeth genauso. Ich habe sie beide geliebt. Und ich habe versucht, für beide zu sein, was sie brauchten. Aber ich glaube, es ist mir nie gelungen, eine von ihnen glücklich zu machen, wirklich glücklich.«
Seine Stimme verklang, seine Augen schwammen in ungeweinten Tränen. »Aber sie hätte uns gehorchen sollen. Wieder und immer wieder haben wir Audrina verboten, die Abkürzung durch den Wald zu nehmen…sie hätte es wissen können.«
»Hör jetzt nicht auf«, sagte ich nervös.
»Nachdem deine Mutter jeglichen Beweis der Vergewaltigung abgewaschen hatte, dachten wir, wir könnten Audrina daheim behalten und das Geheimnis würde in unserem Haus beschlossen bleiben. Aber Geheimnisse sickern schnell durch, ganz gleich, was man auch tut, um sie zu bewahren. Ich wollte diese Jungs finden und ihre dummen Köpfe zusammenschlagen. Aber wie ich schon sagte: Sie wollte uns nicht sagen, wer es gewesen war, wollte auch nicht wieder in die Schule gehen, wo sie sie vielleicht wiedersehen würde. Sie wollte überhaupt in keine Schule mehr gehen. Sie weigerte sich, zu essen, ihr Bett zu verlassen oder in einen Spiegel zu sehen. Eines Nachts stand sie auf und zerbrach jeden Spiegel hier im Haus. Sie schrie, wenn sie mich sah, dennsie sah in mir nicht mehr ihren Vater, sondern einen Mann, der ihr etwas antun könnte. Sie haßte alles, was männlich war. Sie warf Steine und trieb ihren armen Kater fort. Ich habe ihr nie wieder erlaubt, eine Katze zu besitzen, denn ich hatte Angst davor, was sie ihr antun könnte.«.
Ungläubig starrte ich ihn an. »Oh, Papa, ich bin ganz durcheinander. Versuchst du mir zu sagen, daß Vera in Wirklichkeit die erste Audrina ist, die ich mein Leben lang beneidet habe? Papa, du magst Vera nicht einmal!«
Das sonderbare Licht in seinen Augen erschreckte mich. »Ich konnte sie nicht sterben lassen«, fuhr er fort und
Weitere Kostenlose Bücher