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Das Netz im Dunkel

Das Netz im Dunkel

Titel: Das Netz im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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versenkte den Blick in meine Augen, nagelte mich damit fest wie einen Schmetterling auf ein Brett. »Wenn sie gestorben wäre, wäre auch ein Teil von mir gestorben, und sie hätte ihre besondere Gabe mit ins Grab genommen. Nie wieder hätte ich eine Sekunde des Glücks gehabt. Also habe ich sie gerettet. Gerettet auf die einzige Art, die ich kannte.«
    Wie Wasser, das versucht, sich in Beton zu graben, bemühte sich ein Gedanke, in mein Bewußtsein zu dringen. »Wie hast du sie gerettet?«
    »Meine süße Audrina…hast du es noch nicht erraten? Habe ich dir nicht alles erklärt, dir alle Hinweise gegeben, die du brauchst? Vera ist nicht meine erste Audrina… du. bist es.«
    »Nein!« schrie ich, »ich kann es nicht sein! Sie ist tot, begraben auf dem Friedhof! Wir sind doch jeden Sonntag dorthin gegangen.«
    »Sie ist nicht tot, denn du lebst. Es gab keine erste Audrina, weil du meine einzige Audrina bist–und Gott soll mich tot umfallen lassen, wenn ich lüge. Ich sage dir die Wahrheit!«
    Diese Stimmen in meinem Kopf, diese Stimmen, diesagten Papa, warum haben sie es getan? Warum?
    Es ist nur ein Traum, Liebling, nur ein Traum. Papa wird niemals zulassen, daß seiner Audrina, seiner süßen Audrina etwas Böses zustößt. Aber deine ältere, tote Schwester hatte diese Gabe, diese wundervolle Gabe, und ich möchte, daß du sie jetzt bekommst, denn sie braucht sie nicht mehr. Papa kann diese Gabe benutzen, um dir, Mammi und Tante Elsbeth zu helfen.
    Gott hat gewollt, daß die erste und unvergessene Audrina stirbt, nicht wahr? Er hat sie sterben lassen, weil sie ungehorsam war und die Abkürzung benutzt hat. Sie ist bestraft worden, weil sie sich in ihrem teuren, neuen Kleid so hübsch fühlte, nicht wahr? Diese erste Audrina hat gedacht, es wäre Spaß, als die Jungs hinter ihr herliefen. Sie dachte, sie könnte ihnen beweisen, daß sie schneller als Tante Elsbeth laufen konnte. Schneller als alle anderen Mädchen in der Schule. Sie dachte, sie würden sie nie, nie einholen, und außerdem würde Gott schon auf sie aufpassen, nicht wahr? Sie betete zu ihm, aber er hörte sie nicht. Er saß nur da oben in seinem Himmel und tat so, als wäre unten im Wald alles prima, und dabei wußte er Bescheid! Er war froh, daß noch ein stolzes Whitefern-Mädchen angegriffen wurde, denn Gott ist schließlich auch ein Mann! Gott kümmerte es nicht, Papa! – und das ist die Wahrheit, nicht wahr?
    Gott ist nicht so grausam, Audrina. Gott ist gnädig, wenn du ihm Gelegenheit dazu gibst. Aber er hat so viele, auf die er achtgeben muß.
    Aber wozu ist er dann gut, Papa, wozu ist er dann gut?
    Ich schrie und riß mich aus Papas Umarmung. Dann raste ich Hals über Kopf die Treppe hinunter. Es war mir egal, ob ich zu Tode stürzen würde.

Die erste Audrina
    Ich rannte in den stürmischen, bedrohlichen Nachmittag hinaus, um Whitefern zu entfliehen. Ich rannte, um Papa, Arden, Sylvia, Vera und vor allem dem Geist der ersten Audrina zu entfliehen, der jetzt versuchte, mir zu sagen, daß ich überhaupt nicht existierte.
    Die Vergewaltigung war ihr geschehen, nicht mir! Ich raste wie eine Verrückte, hatte Angst, all ihre Erinnerungen würden mich verfolgen, würden sich in meinem Hirn festsetzen wollen und es mit Entsetzen füllen.
    Ich rannte, versuchte, schnell und weit genug zu rennen, um allem zu entfliehen, was ich war, allem zu entfliehen, was mich den größten Teil meines Lebens bedroht hatte. Lügen, Lügen ich wollte irgendwohin, wo es keine Lügen gab–und gleichzeitig wußte ich nicht, wo ich einen solchen Ort finden könnte.
    Hinter mir hörte ich Arden meinen Namen rufen–aber das war auch ihr Name! Nichts gehörte wirklich mir.
    »Audrina, warte! Bitte höre auf zu rennen!«
    Ich konnte nicht aufhören. Es war, als wäre ich ein aufgezogenes Spielzeug. Jahrelang hatte man mich aufgezogen, und jetzt mußte ich alles loswerden oder zerbrechen.
    »Komm zurück!« schrie Arden. »Schau dir mal den Himmel an!«
    Er klang verzweifelt. »Audrina, komm zurück! Du bist nicht gesund! Hör auf, dich so verrückt zu betragen!«
    Verrückt? Wollte er damit sagen, ich wäre verrückt?
    »Liebling«, keuchte er, als er hinter mir herjagte. Eshörte sich an, als erfüllte ihn dieselbe Panik, die ich in mir spürte. »Nichts kann so schlimm sein, wie du denkst.«
    Was wußte er von mir? Von mir, die wie eine Fliege in Papas Lügennetz gefangen war. Einem Netz, das sich so dicht um mich geschlungen hatte, daß mein Leben bar jeden

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