Das Netz im Dunkel
durchlebten wir alles noch einmal, und nichts davon war schön, auch nicht für ihn. »Audrina, ich habe dich nur belogen und betrogen, um dir Leid zu ersparen. Ich hätte jede Lüge erzählt, alles getan, um aus dir wieder das selbstsichere, freundliche Mädchen zu machen, das sich vor nichts fürchtete. Und wenn du jetzt an deine merkwürdige Kindheit denkst, an die du dich nicht erinnern kannst, dann vergiß nicht, daß du selbstmordgefährdet warst, versucht hast, dich selbst zu zerstören. Auf meine Art habe ich, glaube ich, nicht nur dein Leben, sondern auch deinen Verstand gerettet.«
Mein Herz hämmerte wild. Irgend etwas ging in meinem Körper vor, aber die Enthüllungen, die wie Schläge auf mich niedergingen, ließen mich weiterhin Fragen stellen–ich hätte erraten sollen, was nicht stimmte. Ich hatte am Grab der ersten Audrina gestanden und sie beneidet, weiler sie zuerst und mehr geliebt hatte als mich. Ich hatte mir gewünscht, sie zu sein, bloß um diese Art von Liebe kennenzulernen. Es schien verrückt, daß ich die ganze Zeit über sie gewesen war, die erste, die Beste…nicht die zweite, die Schlimmste.
Tränen liefen über meine Wangen, als ich auf die Knie fiel, so daß Papa mich in die Arme nehmen konnte. Als wäre ich noch immer das neunjährige, verstörte Mädchen, wiegte er mich hin und her.
»Nicht weinen, Liebling, nicht weinen. Es ist ja alles vorbei, und du bist immer noch dasselbe süße Mädchen. Du hast dich nicht verändert. Es gibt Leute, denen kann Schmutz einfach nichts anhaben. Du gehörst dazu.«
Doch immer noch fühlte ich mich hier oben in der Kuppel, als wäre ich neun Jahre alt, zerschunden, erniedrigt und nicht menschlich.
Erst da schaute ich zu der Öffnung im Boden hinüber und sah Vera. Ihre dunklen, glitzernden Augen zeigten solchen Haß, solche Bosheit, daß ihre Lippen bebten. Ihr sonderbares aprikosenfarbenes Haar schien lebendig vor Elektrizität, als sie mich anfunkelte. Bruchstücke aus der Vergangenheit zuckten hinter meinen Augen vorüber.
Der Ausdruck von Neid auf Veras Gesicht…so hatte ich mich gefühlt, als ich an die erste Audrina dachte. Vera würde mich liebend gern tot sehen, so, wie ich mich gefreut hatte, daß die erste Audrina tot war. Jetzt erinnerte ich mich an meinen neunten Geburtstag. Ich erinnerte mich an jenen Morgen, als ich mich für die Schule anzog. Ich war noch nicht ganz fertig. Vera und ich benutzten dasselbe Badezimmer. Vera starrte mich an, als ich aus der Badewanne stieg.
»Zieh heute deinen schönsten Unterrock an, Audrina. Den mit der handgearbeiteten Spitze und den kleinenKleeblättern, den du so gern hast. Und zieh auch das passende Höschen dazu an.«
»Nein. Das zieh ich erst an, wenn ich heimkomme. Ich hasse die Schule. Und ich hasse Mammi, weil sie mich zwingen will, mein bestes Kleid in die Schule anzuziehen, wo alle Mädchen eifersüchtig auf mich sein werden und mich hassen, weil ich so etwas Schönes anziehe.«
»Ach, Dummchen, es war nicht Mammis Idee, sondern meine. Es wird Zeit, daß die Mädchen im Dorf endlich begreifen, was für schöne Kleider du hast. Ich finde es eine wunderbare Idee, denen zu zeigen, daß die Mädchen aus Whitefern immer noch seidene Kleider tragen–und alles andere auch aus Seide.«
Ich stand auf der Veranda und sah zu, wie Vera zum Schulbus lief, der sie abholte. Sie drehte sich noch einmal um und rief: »Genieße deine Besonderheit ein letztes Mal, Audrina. Denn wenn du heimkommst, wirst du genauso sein wie wir alle–nicht mehr so rein.«
Ich zuckte bei der Erinnerung zusammen und starrte Vera mit der neuen Erkenntnis an. Nein, versuchte ich mich selbst zu überzeugen, Vera würde doch diese Jungs nicht auf mich hetzen…oder? Sie war die einzige, die wußte, welche Wege ich immer benutzte. Es gab unzählige, kaum erkennbare Pfade in unserem Teil des Waldes.
Es waren diese dunklen Augen, die Vera verrieten, die listige Art, wie sie mich von oben bis unten musterte, innerlich über mich lachte, als würde sie immer die Gewinnerin bleiben, was immer ich auch tat.
» Du bist es gewesen, die mich verraten hat, nicht wahr, Vera?« fragte ich und versuchte, meine Stimme ruhig zu halten und klar zu denken. »Du hast mich gehaßt und mich so sehr beneidet, daß du dir gewünscht hast, Papa würdemich auch hassen. Ich habe geweint, den Kopf in Mammis Schoß vergraben, weil ich dachte, ich hätte irgend etwas getan, das diese häßlichen Jungs davon überzeugte, ich wäre gemein. Ich
Weitere Kostenlose Bücher