Das Netz im Dunkel
sondern für dich habe ich gestohlen und betrogen, um dir alles geben zu können, um wiedergutzumachen, was man dir angetan hatte. Habe ich nicht genug getan? Sag mir, was ich falsch gemacht habe.«
Mit der Faust wischte er die Tränen des Selbstmitleids beiseite, als hätte er mehr gelitten als ich.
»Tag für Tag hielt ich dich auf meinem Schoß, erzählte dir wieder und wieder, daß diese Schmach nicht dir, sondern deiner älteren Schwester zugestoßen wäre und daß sie die erste Audrina umgebracht und auf dem Hügel unter dem Goldregen liegengelassen hatten. Ich habe sogar versucht, ihren Tod schön zu machen. Nicht du, sagte ich immer wieder, es war die andere Audrina, die jetzt tot in ihrem Grab liegt. Nach einer Weile schienst du zu vergessen, und du selbst hast noch etwas getan, was mich überrascht hat. Du hast die Vergewaltigung vergessen, hast aus dem Tod der ersten Audrina etwas Mysteriöses gemacht. Ganz allein hast du die Erinnerung an die Vergewaltigung aus deinem Gedächtnis verdrängt.«
Ich schauderte, wandte mich dann von Papa ab, der immer noch redete. »Ich habe dich gewiegt, dich in meinen Armen gehalten und dir erzählt, daß alles nur ein böser Traum gewesen wäre, und du hast mich mit diesen riesigen, gequälten Augen so hoffnungsvoll angesehen, wolltest so gern glauben, daß es nicht dir geschehen war. Ich dachte, ich wäre auf dem richtigen Weg, also habe ich weitergemacht, Tag für Tag…auf meine Art habe ich für dich das Beste getan, was ich konnte.«
Das Beste, was er konnte, das Beste, was er konnte…
»Hörst du mir noch zu, Liebling? Ich habe aus dir wieder ein unschuldiges Mädchen gemacht. Vielleicht habe ichfür dich alles ein bißchen durcheinandergebracht, aber es war das Beste, was ich tun konnte.«
Der Regen auf dem spitzen Kupferdach der Kuppel trommelte laut, sagte mir immer wieder, daß ich es tief in meinem Innern die ganze Zeit über gewußt hätte.
»War es leicht, die Zeit zu ändern, Papa, und mich sogar mein wahres Alter vergessen zu lassen?«
»Leicht?« fragte er heiser und rieb sich die müden Augen. »Nein, es war nicht leicht. Ich habe alles getan, um die Zeit auszuwischen, sie unwichtig zu machen. Weil wir so fern von anderen lebten, konnte ich dich täuschen. Ich ließ keine Zeitungen mehr bringen. Die Zeitungen, die kamen, waren alte, die ich in den Briefkasten stopfte. Ich machte dich zwei Jahre jünger. Ich versteckte alle Kalender und verbot deiner Tante, dich bei ihr fernsehen zu lassen. Ich verstellte alle Uhren hier im Haus, bis sie unterschiedliche Zeiten ansagten. Wir gaben dir Beruhigungs- und Schlafmittel für deine Kopfschmerzen, und du dachtest, es wäre nur Aspirin, und hast viel geschlafen. Manchmal bist du aufgewacht und hast gedacht, es wäre ein neuer Tag, obwohl nur wenige Stunden vergangen waren. Du warst verwirrt und bereit, alles zu glauben, was ich sagte, um dir Frieden zu schenken. Ich habe Vera schwören lassen, dir niemals die Wahrheit zu sagen. Ich drohte, sie andernfalls so hart zu bestrafen, daß sie niemals mehr in einen Spiegel schauen wollte. Und sie würde keinen roten Heller erben, wenn sie verraten würde, was ich tat. Deine Mutter und deine Tante hielten ihre Dienstags-Teestunde zweimal die Woche ab, damit du dachtest, die Zeit würde wirklich so schnell vergehen. Immer wieder hast du gefragt, welchen Tag wir hätten, welche Woche, welchen Monat. Sogar welches Jahr. Du wolltest wissen, wie alt du wärst, warum du keine Geburtstagsfeiern hättest und Vera auch nicht. Wir logenund erzählten dir alles mögliche, um dir dein Zeitgefühl zu nehmen. Eine Woche später überzeugten wir dich dann, daß Monate vergangen waren. Und nach siebzehn Monaten hatten wir dich davon überzeugt, daß es eine ältere Schwester gegeben hatte, die im Wald gestorben war–länger hat es nicht gedauert. Deine Mutter und deine Tante unterrichteten dich und hielten dich mit dem Schulplan auf dem laufenden, obwohl ich dir gesagt hatte, du wärest nie zur Schule gegangen. Es kam mir so sicherer vor. Als du wieder zurückgehen wolltest, haben wir dich in eine neue Schule gebracht, wo niemand deine Geschichte kannte.«
Tränen standen in meinen Augen. Keine erste und unvergessene Audrina also, nur ich.
»Weiter, Papa«, flüsterte ich. Ich fühlte mich sehr schwach und sonderbar, und meine Augen beschworen ihn, als wollte ich jedes Fünkchen Wahrheit aus ihm herauspressen, solange er am Leben war.
Als er von früher erzählte, war es, als
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