Das Netz im Dunkel
ihren Ohren, am Hals, steckten auf ihren Fingern. Der Pelzbesatz auf ihrem Kostümkragen ließ es so aussehen, als säße ihr Gesicht direkt auf den Schultern. Oft stellte ich mir vor, daß sie auch Pelzbesatz an den langen, weiten Ärmeln und dem Saum des Rockes haben würde, wenn sie aufstand, wie eine Königin aus dem Mittelalter.
Mercy Marie war bis nach Afrika gereist in der Hoffnung, ein paar heidnische Seelen zu erretten und zum christlichen Glauben zu bekehren. Jetzt gehörte sie selbst zu den Heiden, war verspeist worden, nachdem sie getötet und gekocht worden war.
Nach allem, was ich bei diesen Teestunden hörte, hatte Tante Mercy Marie einst eine lächerliche Vorliebe für Sandwiches mit Salat und grüner Gurke gehabt. Allerdings nur, wenn sie auf möglichst dünnem Käsebrot angerichtet waren. So mußte Mutter das Brot backen, die Kruste abschneiden und es mit der Kuchenrolle flachrollen. Danach wurde das Brot mit Kuchenförmchen in verschiedenen Formen ausgestochen.
»Wirklich, Mercy Marie«, sagte meine Tante in ihrer rauhen Art. »Schinken, Käse, Hühnchen oder Thunfisch sind nicht so schlecht, wie du denkst. Wir essen so etwas ständig…nicht wahr, Lucietta?«
Mammi runzelte die Stirn. Ich haßte ihre nächsten Worte, sie waren so grausam und bissig. »Wenn Mercy Marie Salatgurken und Salat-Sandwiches so gern hat, Ellie, warum läßt du sie dann nicht auch ein paar essen, anstatt sie alle in dich hineinzustopfen? Sei doch nicht sogierig. Lerne endlich zu teilen.«
»Lucietta, Liebes«, sprach die schrille Stimme vom Klavier, diesmal von meiner Tante zum Klingen gebracht, »bitte erweise deiner älteren Schwester den Respekt, der ihr zukommt. Du gibst ihr bei Tisch so winzige Portionen, daß sie es dadurch wettmachen muß, daß sie all die Dinge ißt, die ich so liebe.«
»Oh, Mercy, du bist so lieb und großzügig. Ich müßte natürlich wissen, daß der Appetit meiner Schwester niemals zu stillen ist. Ein Faß ohne Boden könnte auch nicht mehr aufnehmen als der Magen meiner Schwester. Vielleicht versucht sie, die große Leere ihres Lebens mit Essen zu stopfen. Vielleicht bedeutet es für sie Liebe.«
Immer weiter zog sich die Teestunde hin, während die parfümierten Kerzen niederbrannten und das Feuer rote Funken versprühte. Tante Ellie verzehrte alle Sandwiches, sogar die mit der Hühnerleberpastete, die ich so gern mochte–und Vera auch. Ich knabberte an einem Sandwich, das ich gar nicht mochte. Diese Sorte schmeckte immer so, wie Tante Mercy Marie sie gemocht hatte: feucht, grasig, durchgeweicht.
»Also wirklich, Lucietta«, sagte Tante Elsbeth mit der Stimme der lieben Verschiedenen. Dabei warf sie mir einen empörten Blick zu, weil ich offensichtlich nicht schätzte, was Tante Mercy Marie so gut geschmeckt hatte. »Du solltest etwas wegen des Appetits dieses Kindes tun. Sie besteht ja nur noch aus Haut und Knochen und riesigen Augen. Und dann dieser lächerliche Haarmop. Warum sieht sie so mitgenommen aus? Man könnte meinen, ein Windhauch könnte sie schon fortwehen–wenn sie nicht vorher schon den Verstand verliert. Lucietta, was treibst du mit diesem Kind?«
Ungefähr in diesem Augenblick hörte ich die Seitentürgehen, und ein paar Sekunden später stahl sich Vera ins Zimmer. Sie versteckte sich hinter einer Topfpalme, damit unsere Mütter sie nicht sehen konnten, und legte einen Finger an die Lippen, als ich zu ihr hinübersah. Sie hatte eine riesige, medizinische Enzyklopädie bei sich, auf deren Umschlag der männliche und weibliche Körper abgebildet waren–ohne Kleider.
Ich drehte mich um. Hinter mir kicherte Vera. Ich verkroch mich in das kleine Versteck in meinem Gehirn, wo ich mich sicher fühlen konnte und keine Angst zu haben brauchte; aber dieser Ort war wie ein Gefängnis. Ich fühlte mich immer gefangen, wenn Tante Mercy Maries gehässiger Geist unseren Salon heimsuchte. Sie war tot und existierte nicht, aber irgendwie brachte sie es fertig, daß ich mich wie ein Schatten ohne Substanz fühlte. Meine Hände flatterten nervös, tasteten nach meinen ›gequälten‹ Augen, den ›eingefallenen‹ Wangen, denn früher oder später würde sie diese Dinge auch erwähnen.
»Mercy«, meldete sich meine Mutter, »wie kannst du nur so wenig sensibel sein, vor meiner Tochter?«
Sie stand auf, in ihrem weich fließenden Gewand schien sie so groß und geschmeidig.
Verwirrt starrte ich das Kleid an. Sie war doch in einem korallenroten Kleid ins Zimmer gekommen. Wie und
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