Das Netz im Dunkel
zugelassen, daß Horace solche krankhaften Spielchen mit dir trieb.«
»Wenn sie es getan hätte, wäre sie jetzt nicht da, wo sie ist«, meinte Mammi kichernd.
Vera riß die Augen ebenso weit auf wie ich. Beide saßen wir stumm und reglos da. Ich war sicher, daß sie alle beide vergessen hatten, daß wir auch noch da waren.
»Wirklich, Mercy Marie, du mußt meiner Schwester verzeihen. Sie ist ein bißchen betrunken. Wie ich gerade schon sagte, ich lebe hier mit so faszinierenden Menschen zusammen, daß es keinen Augenblick langweilig wird. Eine Tochter ist im Wald gestorben, eine andere tritt an ihre Stelle, und die Dummköpfe geben ihr auch noch denselben Namen–«
»Elsbeth«, fuhr meine Mammi sie scharf an und richtete sich plötzlich kerzengerade auf, »wenn du deine Schwester und ihren Mann so sehr haßt, warum gehst du dann nicht fort und nimmst deine Tochter mit? Gewiß gibt es doch irgendwo eine Schule, die dringend eine Lehrerin benötigt. Du hast eine so scharfe Zunge, daß es dir eigentlich gelingen sollte, die Kinder damit im Zaum zuhalten.«
»Nein«, erklärte meine Tante ruhig. Sie nippte noch immer an ihrem Tee. »Ich werde dieses Museum niemals verlassen. Es gehört mir genauso, wie es ihr gehört.«
Sie spreizte den Finger auf eine Art und Weise ab, die ich bewunderte. Mir gelang es niemals, meinen Finger so lange so zu halten.
Komisch, daß meine Tante so vornehme Manieren hatte und dabei so wenig vornehme Kleider trug. Meine Mutter hatte schicke Sachen, aber sie benahm sich alles andere als schick. Während meine Tante ihre Knie dicht zusammenhielt, hielt Mammi sie auseinander. Während meine Tante so steif und gerade dasaß, als hätte sie einen Stock verschluckt, ließ sich meine Mutter zusammenfallen wie eine Puppe. Sie taten alles, um sich gegenseitig zu ärgern und zu verletzen–mit Erfolg.
Bei diesen Teestunden sagte ich niemals etwas, außer, ich wurde direkt angesprochen. Für gewöhnlich blieb Vera genauso still, weil sie hoffte, noch mehr Geheimnisse zu erfahren. Vera hatte sich um ein Sofa geschlichen und saß jetzt mit ausgestrecktem Bein da. Das andere hatte sie bis ans Kinn hinaufgezogen, während sie das bebilderte Medizinbuch durchblätterte, das die menschliche Anatomie erklärte. Gleich hinter dem Umschlag befand sich ihr Pappmann aus vielen dicken Papierschichten. Auf der ersten war er einfach nur nackt. Wenn man diesen Mann dann umdrehte, war er mit allen Arterien abgebildet, die rot eingezeichnet waren; die Venen blau. Unter diesem bunten Bild versteckte sich noch ein Mann, der all seine wichtigen Organe zeigte. Das letzte Bild zeigte das Skelett, das Vera überhaupt nicht beachtete. Es gab auch eine nackte Frau, die von innen bis außen betrachtet werden konnte, aber sie hatte Vera noch nie so interessiert. Schon vor langer Zeit hatte sie den ›Fötus‹ aus derGebärmutter gezogen und benutzte dieses Babybild jetzt als Lesezeichen in ihren Schulbüchern. Stück für Stück nahm Vera jetzt den nackten Mann auseinander und untersuchte ihn genauestens. Jedes Organ konnte wieder an seine richtige Stelle gebracht werden, indem man die Streifen durch die Schlitze mit der richtigen Nummer schob. Mit der linken Hand umfaßte sie seine Geschlechtsteile, während sie sein Herz und seine Leber herausriß, sie hin- und herdrehte, ehe sie schließlich das Papierding aus ihrer linken Hand nahm und genau studierte.
›Wie merkwürdig Männer doch gebaut sind‹, dachte ich, als sie den Mann wieder zusammensetzte. Dann schickte sie sich an, ihn wieder auseinanderzunehmen. Ich wandte mich ab.
Inzwischen waren meine Mutter und Tante Elsbeth schon recht betrunken.
»Ist irgend etwas so wunderbar, wie du es dir vorgestellt hattest?«
Mammi erwiderte den warmen Blick meiner Tante. »Ich liebe Damián immer noch, auch wenn er seine Versprechen nicht erfüllt hat. Vielleicht habe ich mir auch nur selbst was vorgemacht, als ich dachte, ich wäre tatsächlich gut genug, um Konzertpianistin zu werden. Vielleicht habe ich geheiratet, um nicht feststellen zu müssen, wie durchschnittlich ich wirklich bin, wie mittelmäßig.«
»Lucietta, das glaube ich einfach nicht«, sagte meine Tante erstaunlich lebhaft. »Du bist eine talentierte Pianistin, und das weißt du ebensogut wie ich. Du läßt bloß zu, daß dieser Mann dir Flausen in den Kopf setzt. Wie oft hat Damián dich schon damit getröstet, daß du ohnehin keinen Erfolg gehabt hättest?«
»Unzählige Male«, sang meine Mutter
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