Das Netz im Dunkel
Meinung nach ist normal nur gewöhnlich, durchschnittlich. Das Leben gehört den seltenen, außergewöhnlichen Individuen, die es wagen, anders zu sein.«
»Damián, würdest du bitte aufhören, deine Ideen voreinem Kind darzulegen, das noch zu jung ist, um zu verstehen, daß du von nichts eine Ahnung hast als davon, den ganzen Tag zu reden.«
»Schweig!« fuhr Papa sie an. »Ich werde nicht zulassen, daß meine Frau mich vor meinem einzigen Kind lächerlich macht. Lucky, augenblicklich entschuldigst du dich!«
Grinste Tante Elsbeth? Warum? Ich war der Meinung, daß sie meine Eltern gern streiten hörte. Vera gab einen erstickten Laut von sich und erhob sich dann mit großer Mühe, um in die Halle zu humpeln. Bald würde sie in den Schulbus steigen. Ich hätte meine Seele verkauft, um wie jedes andere Kind mitzufahren, das nicht etwas so Besonderes war wie ich. Statt dessen mußte ich daheim bleiben, einsam, sehnte mich nach Spielkameraden und war doch nur von Erwachsenen umgeben, die meinen Kopf mit einem Mischmasch von Gedanken füllten, die sie dann später wieder durcheinanderbrachten. Kein Wunder, daß ich nicht wußte, wer ich war oder welchen Wochentag, Monat oder sogar welches Jahr wir hatten. Für mich gab es keine guten oder schlechten Zeiten. Mir schien es, als lebte ich in einem Theater. Bloß waren die Schauspieler auf der Bühne meine Familienmitglieder, und auch ich mußte eine Rolle spielen–ohne zu wissen, welche das war.
Ganz plötzlich, ohne irgendeinen ersichtlichen Grund, sah ich mich in der Küche um und erinnerte mich an eine große, orangefarbene Katze, die immer in der Nähe des alten Eisenofens geschlafen hatte.
»Ich wünschte, Tweedle Dee würde heimkommen«, bemerkte ich traurig. »Seit meine Katze fort ist, fühle ich mich noch mehr allein.«
Papa fuhr zusammen. Mammi starrte mich an. »Aber Tweedle Dee ist doch schon so lange fort, Audrina.«
Ihre Stimme hatte einen angestrengten, besorgten Klang.
»Ja, schon, ich weiß. Aber ich möchte trotzdem, daß er heimkommt. Papa, du hast ihn doch nicht ertränkt, oder? Du würdest doch meine Katze nicht umbringen, bloß weil–sie dich zum Niesen bringt?«
Er warf mir einen besorgten Blick zu, ehe er sich zu einem Lächeln zwang. »Nein, Audrina. Ich tue doch mein Bestes, um all deine Bedürfnisse zu erfüllen. Wenn diese Katze hätte bleiben wollen, damit ich mich zu Tode niese, dann hätte ich das um deinetwillen schweigend erlitten.«
»Erlitten schon, aber nicht schweigend«, murmelte meine Tante.
Ich sah zu, wie sich meine Eltern umarmten und küßten, ehe Papa zur Garage lief. »Viel Spaß bei eurer Teegesellschaft«, rief er Mammi zu. »Aber ich wünschte, ihr würdet Mercy Marie ruhen lassen. Was wir brauchen, ist jemand, der in der leeren Hütte lebt, die uns gehört. Dann hättet ihr eine nette Dame zur Nachbarin, die ihr zum Tee einladen könntet.«
»Damián«, rief Mammi mit süßer Stimme, »fahr du nur zu und amüsier dich. Aber laß Ellie und mich auch unseren Spaß haben, wenn wir hier schon wie Gefangene leben müssen.«
Er brummte, sagte aber nichts mehr. Gleich darauf sah ich ihn durch die Vorderfenster davonfahren. Er winkte noch einmal, ehe er außer Sichtweite war. Ich wollte nicht, daß er fuhr. Ich verabscheute die Teestunde am Dienstag.
Normalerweise wurde der Tee um vier serviert, aber seit Vera angefangen hatte, die letzte Schulstunde zu schwänzen, um rechtzeitig um vier daheim zu sein, war der Tee auf drei Uhr vorverlegt worden.
Ich trug meine besten Kleider und wartete darauf, daß das Ritual begann. Es gehörte zu meiner Erziehung, beidieser Gelegenheit anwesend zu sein. Und wenn Vera krank genug war, um nicht in die Schule gehen zu müssen, dann wurde sie auch ganz offiziell eingeladen. Ich vermutete oft, daß Vera ihre Knochen nur brach, um daheimbleiben und hören zu können, was in unserem vornehmsten Salon geschah.
Meine Spannung wuchs, als ich darauf wartete, daß Mammi und meine Tante auftauchten. Zuerst kam Mammi. Sie trug ihr schönstes Nachmittagskleid–ein weiches, fließendes Wollkleid in hübschem Korallenrot, mit Paspeln in Veilchenblau, passend zu ihren Augen. Dazu trug sie ein Perlenkollier und Ohrringe mit echten Diamanten und Perlen, die zu dem Collier paßten. Der Schmuck gehörte zum Erbe Whiteferns, hatte sie mir mehr als einmal erklärt, und würde eines Tages mir gehören. Sie hatte ihr wunderschönes Haar nach oben gebürstet, aber ein paar Locken hingen herab, um der
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