Das Netz im Dunkel
Papa davon überzeugen, daß ich den Wald hinter mir gelassen und die Gaben bereits gefunden hatte, die die erste Audrina nicht mehr brauchte.
Ganz sanft und liebevoll brachte er mich ins Bett, deckte mich zu. Dann kniete er nieder und sprach ein Gebet, bat die Engel hoch droben, mich zu beschützen und sicher und mit süßen Träumen durch die Nacht zu geleiten. Er küßte mich auf die Wange und sagte mir, daß er mich liebte. Und schon als er die Tür hinter sich schloß, fragte ich mich, wie ich ihn dazu bringen könnte, mich nicht mehr in dieses Zimmer und diesen Stuhl zu zwingen. Wie kam es, daß ich haßte, was er mit mir machte, aber die Idee liebte, zu sein, was er sich wünschte? Wie konnte ich ich selbst bleiben–wenn er versuchte, mich in sie zu verwandeln?
Stundenlang lag ich auf dem Rücken und starrte zur Decke hinauf, versuchte, meine Vergangenheit wiederzufinden. Papa hatte mir unzählige Erklärungen dafür gegeben, was ihn am glücklichsten machen würde. Er wollte Geld, Unmengen von Geld, für sich selbst, für Mammi und mich. Er wollte dieses Haus herrichten lassen, bis es wie neu war. Er mußte all die Versprechen erfüllen, die er Lucietta Lana Whitefern gegeben hatte, der Erbin, die jeder achtbare Mann der Ostküste begehrt hatte, bis sie ihn geheiratet hatte. Was für eine gute Partie meine Mutter doch gewesen war. Hätte sie nur nicht zwei Audrinas geboren.
Teestunde am Dienstag
Weihnachten ging vorüber, aber ich kann mich kaum noch an etwas anderes erinnern als an die Puppe, die unter dem Baum gelegen hatte. Vera war neidisch gewesen, obwohl sie oft behauptete, sie sei viel zu alt, um noch mit Puppen zu spielen.
Die Zeit verging so schnell, daß es mir angst machte. Noch ehe ich es bemerkt hatte, war der Frühling schon da. Vera quälte mich gern mit der Behauptung, daß jeder, dem die Zeit durch die Finger rann, verrückt sei.
Heute war Dienstag. Tante Mercy Marie würde wieder zu Besuch kommen. Dabei kam es mir so vor, als wäre sie erst gestern zur Teestunde hervorgeholt worden.
An diesem Dienstag morgen hatte Papa es nicht eilig, in sein Büro zu kommen. Er saß am Küchentisch und sprach über das Leben und seine Schwierigkeiten, während Vera und meine Tante Pfannkuchen in sich hineinschlangen, als würden sie nie wieder etwas zu essen bekommen. Meine Mutter richtete die Schnittchen für die Teestunde her.
»Es waren gute und schlechte Zeiten«, fing mein Papa an. Er liebte diesen Satz, der an den Nerven meiner Mutter ebenso zu zerren schien wie an den meinen. Wenn Papa das sagte, hatte man schreckliche Angst, auch nur an morgen zu denken, geschweige denn noch weiter in die Zukunft.
Er erzählte mehr und mehr, ließ seine Jugendzeit so schön erscheinen, daß ich es für unmöglich hielt, jemals etwas so Schönes erleben zu können. Das Leben war einfach perfekt gewesen, als Papa noch ein Junge war; die Menschen waren damals netter gewesen; die Häuserwaren dafür gebaut, eine Ewigkeit zu halten und nicht gleich auseinanderzufallen, wie sie es heute taten. Sogar die Hunde waren besser gewesen, als er noch ein Junge war, wirklich zuverlässig; man konnte sicher sein, daß sie jedes Stöckchen zurückbrachten, das man ihnen warf. Und selbst das Wetter war besser, nicht so heiß im Sommer, nicht so kalt im Winter, außer bei einem Schneesturm. Kein heutiger Schneesturm kam auch nur entfernt an die eisige Kälte und Wildheit der Schneestürme heran, in denen Papa von der Schule heimlaufen mußte.
»Zwanzig Meilen«, prahlte er, »durch Wind und Schnee, Eis und Regen und Hagel–aber nichts hielt mich daheim–nicht einmal, als ich Lungenentzündung hatte. Als ich in der Fußballmannschaft der High School war und mir das Bein gebrochen hatte, hinderte mich das doch nicht daran, jeden Tag zur Schule zu laufen. Ich war hart im Nehmen und entschlossen, eine gute Ausbildung zu bekommen.«
Mammi stellte einen Teller ab, so heftig, daß er sprang. »Damián, hör auf, so zu übertreiben.«
Ihre Stimme klang rauh und ungeduldig. »Siehst du denn nicht, daß du deiner Tochter völlig falsche Vorstellungen vermittelst?«
»Habt ihr ihr denn jemals andere Vorstellungen vermittelt?« meinte Tante Elsbeth anklagend. »Wenn Audrina normal wird, dann ist das ein Wunder.«
»Amen«, fügte Vera hinzu. Sie grinste mich an und streckte mir die Zunge heraus. Papa bemerkte es nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, meine Tante anzubrüllen.
»Normal? Was ist denn schon normal? Meiner
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