Das Netz im Dunkel
Irgend etwas an meinem Leben war sonderbar. Ganz egal, wie oft Papa mir auch von meinem besonderen Wesen erzählte, es war einfach nicht normal, ein ganzes Jahr zu vergessen. Es konnte nicht normal sein. Ich würde Arden fragen. Aber dann würde er wissen, daß etwas mit mir nicht in Ordnungwar, und würde mich auch nicht mehr mögen.
Es schien also so, als müßte ich Papa glauben. Ich sagte mir, daß ich schließlich nur ein Kind sei. Was machte es schon für einen Unterschied, wenn ich ein Jahr im Prozeß des Erwachsenwerdens verlor? Und wenn die Zeit schneller verging, als ich es merkte, was machte das schon?
Manchmal tauchten unterbewußte Ängste auf, beunruhigten mich, bedrohten meinen Versuch, alles hinzunehmen. In meinem Kopf zuckten Farben hin und her, ich fühlte die wiegende Bewegung meines Körpers, hin und her, hin und her; singende Stimmen erzählten mir von Geburtstagsfeiern, als ich acht Jahre alt war und ein weißes Kleid mit Rüschen getragen hatte, das mit einer violetten Satinschärpe zusammengehalten worden war.
Aber was bedeuteten diese Schaukelstuhlträume? Außer, daß die erste und unvergessene Audrina an ihrem Geburtstag ein weißen Rüschenkleid getragen hatte? All diese Visionen von Feiern–das waren ihre Feiern. Wohin konnte ich mich wenden, um die Wahrheit herauszufinden? Gab es jemanden, der wirklich vollkommen ehrlich zu mir war? Es gab niemanden, der mir die Wahrheit sagen würde, denn es könnte mich ja verletzen.
Papa zog mich neben sich auf den grasbewachsenen Abhang. Die Sonne stand hoch über uns, brannte heiß auf mein Haar nieder, als ich mit Papa dort saß und saß. Jedes Wort, das er sagte, wusch klare Bilder aus meinem Gedächtnis fort und ersetzte sie durch unscharfe Flecken. Ich beobachtete die Gänse und Enten, die wie wild zu der Stelle paddelten, wo Mammi sie immer fütterte. Sie hatten eine Vorliebe dafür, im Frühling ihre Tulpen und Narzissen zu fressen.
»Laß uns darüber sprechen, was du gestern nacht geträumt hast«, sagte Papa, nachdem wir lange Zeit geschwiegen hatten. »Letzte Nacht hörte ich dich stöhnen und stöhnen, aber als ich dann zu dir kam, hast du dich in deinem Bett hin und her geworfen und hast zusammenhangloses Zeug geredet.«
Von Angst erfüllt schaute ich mich um, sah einen Specht an einem unserer schönsten Bäume herumhacken. »Hau ab!« rief ich. »Friß die Würmer aus den Kameliensträuchern!«
»Audrina«, sagte Papa ungeduldig, »vergiß die Bäume. Die sind noch hier, lange nachdem wir beide fort sind. Erzähl mir, was du in dem Schaukelstuhl gesehen hast.«
Wenn Papa daran glaubte, daß Mrs. Allismore mit ihrem Faden-und-Ring-Trick arbeiten konnte, dann schien es nur gerecht, daß ich dieselbe Methode anwandte, um ihn zu erfreuen. Ich wollte gerade sprechen, als ich spürte, wie sich die Haare in meinem Nacken aufrichteten. Hastig wandte ich den Kopf und erhaschte einen Blick auf Vera in dem Zimmer, in dem der Schaukelstuhl stand. Sie war noch immer da oben, schaukelte noch immer. Sollte sie doch für alle Zeiten so weiterschaukeln; da war keine Gabe, nur die Einbildung eines Menschen, der irgendeinen Zauber in sein Leben wünschte. Und vielleicht war Einbildungskraft am Ende auch eine besondere Gabe.
»Schön, Liebes, ich will dich nicht weiter bedrängen. Erzähl mir einfach, was du gestern nacht geträumt hast.«
Ich sagte den Namen der Aktie, die meine Nadel zweimal und dann noch zweimal berührt hatte. Papa sah mich ungläubig an, dann wütend. Aus seiner Reaktion schloß ich sofort, daß ich etwas Falsches getan hatte.
»Audrina, habe ich dich um einen Börsentip gebeten?« fragte er verärgert. »Nein, das habe ich nicht getan. Ichhabe dich gebeten, mir deine Träume zu erzählen. Ich versuche dir zu helfen, dein Gedächtnis wiederzufinden. Begreifst du denn nicht, daß ich dich deshalb in diesen Stuhl setze? Ich habe versucht es so aussehen zu lassen, als sei es ganz natürlich, daß du das Gedächtnis verloren hast. Aber das ist es nicht. Ich wollte nichts weiter, als daß du wiederfindest, was du vergessen hast.«
Ich glaubte ihm nicht. Ich wußte, was er wollte. Er wollte, daß ich mich in die erste Audrina verwandelte! Darum hatte er all diese Bücher über schwarze Magie und psychische Kräfte in seinem Arbeitszimmer versteckt.
Ich wich zurück, starrte zum Haus hinüber. Ich war schrecklich aufgewühlt. Vera schaukelte noch immer, hin und her, hin und her. O Gott, wenn sie nun den Traum hatte, den
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