Das Netz im Dunkel
Mammis Tod ja sinnlos–obwohl kein Tod wahrscheinlich einen Sinn haben konnte. Ich sagte mir, daß Sylvia leben würde, denn ich wollte jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend dafür beten, bis zu dem Tag, an dem sie zu mir heimkommen und ich ihre Mutter sein würde.
»Sie ist noch so klein und hat doch schon so viel Kummer und Schmerz verursacht«, murmelte Papa müde und legte erneut seinen Kopf auf die gefalteten Arme auf dem Tisch. Er schloß die Augen und schien zu schlafen. Tante Elsbeth hielt sich in seiner Nähe auf. Offensichtlich wollte sie ihn trösten, wußte aber nicht, wie. Einmal schickte sie sich sogar an, sein Gesicht zu berühren, aber hastig zog sie die Hand zurück, und nur ihre Blicke liebkosten ihn.
Sie macht ihm Vorwürfe, gibt ihm die Schuld genau wie ich, dachte ich. Ohne daran zu denken, daß Mammi vielleicht einfach nicht dafür gebaut war, Babys leicht zu bekommen. Dann, als mein Vater spürte, daß meine Tante ihn ansah, hob er den Kopf und starrte sie an. In seinen müden Augen lag Herausforderung.
»Ich hoffe, du kannst dir eine Pflegerin leisten, die sich um Sylvia kümmert, wenn sie heimkommt«, sagte Tante Elsbeth rücksichtslos. Ihre dunklen Augen blickten ebenso herausfordernd wie seine. »Wenn du glaubst, daß ich den Rest meines Lebens damit vergeude, hierzubleiben und mich um zwei Kinder zu kümmern, die nicht die meinen sind–dann denke lieber noch ein zweites Mal darüber nach, Damián Adare.«
Lange kämpften sie schweigend mit Blicken, und als Tante Elsbeth als erste die Augen niederschlug, meinte Papa: »Du bleibst.«
Seine Stimme war tonlos. Sie blickte auf, begegnete seinem festen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, trotzig. »Ja, Ellie, du wirst nicht gehen, weil du nämlich die Herrin von Whitefern sein wirst, mit allem, was dazugehört.«
Betonte er das ›allem‹? Vielleicht bildete ich es mir nur ein. Ich hatte nun einmal eine lebhafte Phantasie, sogar, wenn ich unter Schock stand wie jetzt.
An diesem Abend schlich Vera in mein Schlafzimmer, als ich weinend im Bett lag. Sie flüsterte mir ins Ohr, daß Papa das Leben meiner Mutter hätte retten können, wenn er nicht unbedingt das Baby hätte haben wollen. »Aber er hat deine Mutter nicht genug geliebt«, fuhr sie grausam fort. »Er wollte das Baby, von dem er überzeugt war, daß es ein Sohn sein würde. Du kannst sicher sein, wenn er gewußt hätte, daß es wieder nur ein Mädchen sein würde wie du, dann hätte er den Ärzten gesagt, sie sollten nicht das Baby, sondern deine Mutter retten.«
»Ich glaube dir nicht«, schluchzte ich. »Papa hat mir nicht erzählt, daß er irgendeine Wahl hatte.«
»Weil er nicht wollte, daß du es weißt. Er hat dir ja nicht einmal erzählt, daß deine Mutter ein schwaches Herz hatte. Deshalb hat sie auch so viel auf dem Sofa gelegen oder im Bett. Deshalb war sie auch immer so müde. Nach deiner Geburt hat ihr Arzt ihnen gesagt, daß sie nie wieder ein Kind haben dürfte. Als Sylvia also in dem steckenblieb, was dein Vater den Geburtskanal nennt, da hätte er den Ärzten sagen können, sie sollten das Leben deiner Mutter retten und nicht Sylvias. Aber er wollte das Kind. Er wollte einen Sohn. Alle Männer wünschen sicheinen Sohn. Deshalb liegt deine Mutter in diesem Augenblick auf einer harten, kalten Pritsche in einem riesigen Kühlschrank in der Leichenhalle des Krankenhauses. Und morgen früh werden sie sie herausholen und in eine Leichenhalle fahren. Und da kommen dann Männer und ziehen ihr alles Blut aus dem Körper. Sie werden ihr die Lippen und die Augenlider zusammennähen, damit sie sich nicht öffnen, wenn man die Leiche anschaut–und sie werden sogar noch Watte in–«
»Vera!« brüllte mein Vater, marschierte ins Zimmer und packte sie an den Haaren. »Wie kannst du es wagen, zu meiner Tochter ins Zimmer zu gehen und ihr so schreckliche Geschichten zu erzählen? Was hast du nur für ein krankes Gehirn?«
Es regnete am Tag der Beerdigung meiner Mutter. Es hatte schon drei Tage lang ununterbrochen geregnet. Unsere kleine Familie drängte sich unter einem düsteren Baldachin zusammen. Der Nieselregen lief in kleinen Rinnsalen herab, tropfte auf den Sarg meiner Mutter, der mit roten Rosen bedeckt war. Am Kopf des Sarges stand ein Kreuz aus weißen Rosen, mit einem veilchenfarbenen Band, auf dem in Goldbuchstaben mein Name stand. »Für Mammi, von ihrer liebenden Tochter Audrina.«
»Papa«, flüsterte ich und zupfte an seinem Ärmel. »Wer hat das
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